Julius Hart

Nora ved Deutsches Theater anmeldt av Julius Hart i Tägliche Rundschau. Unparteiische Zeitung für nationale Politik, Berlin, 5. september 1894 (Nr. 207. 14. Jahrgang, s. 5).

Theater und Musik.

* Sind es Wahrheit und Natur, oder ists der Geist des alten Friedrich Nicolai, welche vom «Deutschen Theater« Besitz nahmen und den neuen Stil dieser Bühne beherrschen? Ist unser Naturalismus schon so rasch bei der Trivialität und Nüchternheit angelangt, in welche alle naturalistische Kunst so leicht ausmündet? Gehen schon die Schatten Ifflands um, vor denen einst Schiller entsetzt floh, um sich dem «Idealismus» in die Arme zu werfen? In der That stand über der Nora-Aufführung derselbe Stern, welcher über der «Kabale und Liebe» verdrießlich hing. Und wer da meint, was Schiller entstellte, das stehe Ibsen noch ganz gut zu Gesicht, Ibsen müsse eben wie ein Salonplauderer gespielt werden, der besitzt die Hände, die ewig herabziehen. Ibsens Größe besteht nicht in dem, was er mit Iffland gemeinsam hat, sondern in Allem, was ihn von diesem trennt. Und der Dichter Ibsen will ebensowenig wie der junge Schiller geplaudert werden. Ja wirklich, wie ein Bann scheint es über den meisten Darstellern des Deutschen Theaters zu liegen, und Kraußneck, Nissen habe ich kaum wiedererkannt. Offenbar hat man ihnen unaufhörlich zugeschrieen und immer wieder haben sie sichs zugeschworen, schlicht, einfach und natürlich zu spielen. Aber das «natürlich» hat sich in ein «alltäglich» verwandelt und das «alltäglich» in ein «schläfrig»: «Kinder, regt Euch doch nur nicht bei der Geschichte auf, die Sache ist ja so «schnuppe», das scheint Kern und Inhalt der neuen Dramaturgie des Deutschen Theaters zu sein, ein Realismus, der, wenn er eine Liebeserklärung macht, an einem Butterbrot kaut, damit er nur nicht zu deklamiren scheint. Es war fast zum Verzweifeln, wie farblos und einförmig der Ibsensche Dialog aus dem Munde der Meisten hervorkam; so einförmig, Alles in einem und demselben Tonfall, wie man im Leben spricht, wenn man über das Wetter redet. Als wäre nicht auch die Ibsensche Sprache eine Kunstsprache, eine Sprache der höchsten Konzentration, die in einen Satz eine Gemüthsstimmung zusammenpreßt, zu deren Ausdruck die Wirklichkeitssprache unruhig umhertastend in tausend Weitschweifigkeiten sich verliert. Mit jedem Satze fast ändert sich auch bei Ibsen die Seelenstimmung und geradezu in scharfen Gegensätzen und Sprüngen, so daß auch die Rede des Darstellers sich in fortwährendem Auf und Ab bewegen und eine abwechslungsvolle Erregtheit widerspiegeln muß, wie sie in so raschem Wechsel das gewöhnliche Leben nicht bietet. Allein Agnes Sorma traf hier die wirkliche Wahrheit. Wie zeigte aber auch das Mienenspiel der Künstlerin einen ewigen Wandel, wie schlug der Ton zuweilen mitten in einem Satz, mitten in einem Worte um! Welch eine peinigende Ungleichheit des Stils kam aber auch damit in die ganze Aufführung. Wie fremd stand Agnes Sorma unter den Uebrigen da, welche sich alle ängstlich hüteten, aus ihrer Haut heraus zu kommen, und nichts als korrekt zu sein wagten. Vor Allem aber fiel mir als kennzeichnend auf, wie man Ibsen zu ifflandisiren wußte, indem man eine breite Brühe von Sentimentalität über sein Werk ausgoß. Dieses sentimentale Element war das eigentliche Auffällige und Charakteristische dieser Nora-Aufführung, um so auffälliger, als der Ibsenschen Poesie nichts so sehr wider den Strich geht, wie gerade Sentimentalität. Es lag das vor Allem an der sehr einseitigen Rollenauffassung Rittners sowohl wie auch Kraußnecks. Rittner hatte von dem reichen und echt Ibsensch verzwickten Charakterbild des Dr. Rank nur zweierlei aufgefaßt: daß dieser ein kranker, dem Tode naher Mann und in Nora heimlich verliebt ist. Er machte also aus ihm einen schmachtenden jugendlichen Liebhaber, einen schwindsüchtigen Toggenburg, der sich ganz in Wehmuth auflöst und fast mit Thränen im Auge von seinem jungen verfehlten Leben und von seinem nahem Tode spricht. Man begreift gar nicht, wie Nora von diesem Dr. Rank sagen kann, daß es im Hause immer so lustig zugeht, sobald er da ist. Und sieht man einigermaßen genauer zu, zieht man das ganze Wesen der Ibsenschen Poesie in Betracht, so erleidet es keinen Zweifel, daß der Mann an nichts weniger als an Sentimentalität leidet. Er bringt die Fröhlichkeit ins Haus, weil ihm nichts heilig ist und weil er zu ironisiren, zu spotten und sarkastisch Alles durchzuhecheln weiß. Es ist der medizinische Cyniker, der seine Krankheit erträgt, wie Heine in seiner Matratzengruft sie trug. Er besitzt den Witz und den Humor der Verzweiflung und sein Lebenshunger ist der des Schopenhauerschen Pessimismus und der Weltverachtung. Wer einen «rührenden» Charakter daraus macht, wirft das Ibsensche Gebild einfach über den Haufen. Jedenfalls ist die Gestalt des Dichters tausendmal interessanter, als die des Schauspielers es war. Kraußneck fand für seine Sentimentalität in der Figur des Günther ja einige bessere Anhaltspunkte, aber er war nur sentimental, er spielte mit tödtlicher Einförmigkeit und herkömmlich einen Heruntergekommenen, der eigentlich der bravste und beste Kerl ist. Er kehrte einseitig und mit größter Deutlichkeit fast nur heraus, was den Mann rührend und sympathisch machen kann, und verwischte all die harten und herben Züge, die dem Bilde so reich beigemischt sind. Verschwommen blieb Rosa Bertens als Christine, am verschwommensten Nissen als Helmer, der zuerst mit Geschick gar nichts zu sagen wußte, und als er zum Schluß etwas sagte, Alles falsch sagte. Die weichlich-schlüpfrige Sinnlichkeit und lüsterne Gier des dritten Aktes verwandelte sich bei ihm in eine fast feurige, fast innige Liebestrunkenheit. Das Unzureichende der Darstellung wäre noch ganz anders in Erscheinung getreten, hätte nicht Agnes Sorma ihren Stil gespielt, hätte sie nicht alle Anderen so beherrschend überragt, wäre ihre Rolle nicht die fast allein tragende des Dramas. Ihre Nora ist von früher her sattsam bekannt, im dritten Akt scheint sie mir gegen früher gewachsen zu sein, im ersten hat dagegen ihr Mienenspiel etwas Ueberladenes bekommen. Ihre Mimik war vordem natürlicher und ungezwungener, und fast scheint mir, als wenn sie in der Zwischenzeit etwas zu viel über das Kapitel Mimik nachgedacht hätte. Sollte ihr doch Eleonore Duse die holde Unbefangenheit verwirrt haben? Sie brauchte am wenigsten den Vergleich zu scheuen und darf ganz nur ihr Selbst sein. Halt Dich an Deine deutsche Kunst, Agnes Sorma, und denk daran, daß zwischen italienischer und deutscher Kunst etwas liegt, was man nationalen Unterschied nennt.
Julius Hart.
Publisert 2. apr. 2018 14:57 - Sist endret 2. apr. 2018 14:59