M. Benfey

Et dukkehjem i Wilhelm Langes tyske oversettelse anmeldt av M. Benfey i Magazin für die Literatur des Auslandes, Leipzig, No. 27, 49. Jahrgang (1880), s. 381-383.

Neues aus Norwegen.

...

II.
Nora, Schauspiel in drei Aufzügen von Henrik Ibsen.
Deutsch von Wilhelm Lange. Leipzig, Ph. Reclam.

Nicht einfach das blosse Geschehen des alltäglichen Lebens macht die dramatische Handlung aus, sondern die Folgerichtigkeit der Bethätigung aus dem Charakter heraus, das in Worte gefasste Bild der Empfindungen, aus denen die Ereignisse hervorgehen, wie derer, die durch sie erregt werden. Der Begriff der dramatischen Handlung umfasst sowohl äusseres wie inneres Geschehen. Wenn meist auf die äusserliche Handlung, das thatsächliche Vorgehen bedeutender Ereignisse, das Hauptgewicht gelegt wird, so darf man doch nicht vergessen, dass dieses allein durchaus keine dramatische Handlung ausmacht, wie der glücklich überwundene Standpunkt der Haupt- und Staatsaktionen entschieden beweist. Ibsen dürfte in seiner neuesten dramatischen Schöpfung vielleicht der Vorwurf gemacht werden, zu weit nach der entgegengesetzten Richtung gegangen zu sein. In der That ist die äussere Handlung in Nora beinah Null; mit beabsichtigter Kunst ist auch jede Nebenhandlung, deren Wirkung trotzdem stets zur Katastrophe in Beziehung steht und zu ihr beitragen muss, so gedämpft, so in den Hintergrund gerückt, dass alles Licht voll auf die rein innerliche Handlung fällt: die feine psychologische Entwickelung des Hauptcharakters, der plötzlich zum Bewusstsein des Confliktes mit seiner ganzen bisherigen Anschauung kommt. Hier liegt der dramatische Schwerpunkt, und mit vollendeter Kunst zeigt der feinste Pinselstrich, der leiseste Zug die weise Hand des Meisters, der alle Mittel beherrscht, und sie alle dem einen Hauptzweck dienstbar macht und unterordnet. Da ist kein Wort, keine Bewegung umsonst; Alles wirkt darauf hin, den Charakter Noras klar zu legen, die ganze unbewusste Kindernatur zu zeigen, an der noch Alles Kind ist, was geistige Entwickelung betrifft. Nichts ist an ihr erwachsen als ihr Herz, aber das ist auch sehr gross. Unbedingt folgt sie all seinen Eingebungen und darf ihnen folgen. Sie lebt nur nach Innen; ihr Haus ist ihre Welt, ihr Mann ihr Geliebter, ihr Ideal und Gebieter denkt und handelt für sie. Sie ist seiner spielenden Liebe gegenüber dasselbe Kind geblieben, dass sie der verhätschelnden Liebe des Vaters gegenüber gewesen: voller Kindeseinfalt, Kindesunart und Kindeslist. In mannigfachen Zügen zeigt der Dichter diese Kindesnatur, die mit dem unschuldigsten Gesicht nascht und lügt; mit feinbeobachtender Kindeslist die günstigste Stimmung für ihre kleinen wie grossen Anliegen vorzubereiten weiss, und in dieser Umsicht auch die ächte Kinderkenntniss von ihres Mannes Charakter zeigt, den sie im Kleinen, im Einzelnen vorzüglich erkannt hat. Doch in seine Tiefen ist sie nicht eingedrungen, und so ist er ihr das Ideal geblieben, das ihr Herz in dem Manne ihrer Liebe sehen muss.

Sehr plastisch sind diese beiden entgegengesetzten Charaktere herausgearbeitet. Er ganz nach Aussen, sie ganz nach Innen; er Ideal und Schönheit in allem Aeusseren suchend; sie im unbewussten inneren Besitz beider. Er, der als letzte Instanz ihr gegenüber an das Urtheil der Aussenwelt appellirt: «Und bedenkst du nicht, was die Leute dazu sagen werden?» worauf ihr nun endlich zum Bewusstsein erwachtes Menschenthum keine andere Antwort haben kann als: «Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen.»

In voller dramatischer Lebendigkeit entwickelt sich diese Haupthandlung, obwohl sie eine rein seelische ist, vor unseren Augen. Sobald der unvermeidliche Konflikt zwischen dem Ideal, das sie in ihm gesehen, und Helmers wahrer Natur Nora zum Bewusstsein kommt, muss mit dieser Erkenntnis das ganze Gebäude ihres bisherigen Lebens, das auf dem Fundament dieses Ideals errichtet war, zusammenbrechen. Den sie geliebt, zu dem sie vertrauensvoll emporgeblickt, der ihr die Verkörperung des Gesetzes war, steht ihr plötzlich als ein Anderer, als ein Fremder gegenüber, der sie nicht versteht: «Das ist es eben. Du verstehst mich nicht. Und ich habe dich ebenfalls nicht verstanden bis heute Abend.»

Wie sie früher ganz abhängig von ihm gewesen, so muss sie nun ganz selbständig werden. Zum ersten Mal empfindet sie sich als Mensch, fühlt sie, dass sie auch gegen sich selbst Pflichten hat, die ihr bisher nie zum Bewusstsein gekommen, die weder des Vaters noch des Mannes egoistische Liebe ihr zum Bewusstsein gebracht. Auf sein Wort: «Vor Allem bist du Gattin und Mutter,» erwidert sie: «Das glaub ich nicht mehr. Ich glaube, vor Allem bin ich ein menschlich Wesen eben so wie du oder ich will es wenigstens zu werden versuchen.»

Mit der Vernichtung der seinen, die ihr der Inbegriff aller Autorität war, sinkt ihr jede dahin, und sie fühlt, dass sie aus sich selbst heraus sich eine Anschauung der Dinge, eine Stellung zu der Welt schaffen muss, die ihr so plötzlich unvermittelt und feindlich gegenübersteht. «Ich kann mich nicht mehr damit begnügen, was die meisten Menschen sagen und was in den Büchern steht. Ich muss selbst über die Dinge nachdenken und mir über die Dinge klar zu werden suchen.»

Auf seinen Einwurf: «Du verstehst die Gesellschaft nicht, in der du lebst,» antwortet sie: «Das thu ich auch nicht. Aber nun will ich sie kennen lernen. Ich muss mich überzeugen, wer Recht hat, die Gesellschaft oder ich.»

So nimmt die bisher so kindliche Frau in dem klaren Bewusstsein, das ihr plötzlich, erschütternd, in grellem Lichte die Nichtigkeit ihres seitherigen Lebens gezeigt hat, den Kampf des Lebens auf sich: das Ringen nach Wahrheit, nach Erkenntnis. Unbarmherzig hat ihres Mannes egoistische Furcht von der Aussenwelt die Schranke niedergerissen, die Noras Kindersinn von der Welt, «den Fremden», abschloss in den kleinen Kreis ihrer Lieben, der ihr Alles war. Ohne Ahnung einer anderen Pflicht als der, welche ihr Herz für diese Nächsten und Liebsten empfindet, ist sie ohne Ueberlegung, ohne jede Rücksicht auf «fremde Menschen» der Eingebung ihres geängsteten Herzens gefolgt, als es sich darum handelte, ihrem kranken Manne das Leben zu retten. Was gehen sie die Anderen, die Fremden an? Er muss gerettet werden. Sie setzt den Namen ihres Vaters unter das Dokument, das ihr die Mittel zu dieser Rettung schafft, und mit Stolz und Freude erfüllt sie das Bewusstsein dieser grossen That, durch welche die kleine Nora den so hoch über ihr stehenden Mann gerettet, dessen «männliches Selbstbewusstsein» freilich nichts von dieser Rettung ahnen darf, denn «wie peinlich und demüthigend würd es für ihn sein, zu wissen, dass er mir etwas verdanke! Das würde unser gegenseitiges Verhältnis ganz verschieben; unser schönes glückliches Dasein würde nicht mehr sein, was es jetzt ist.» Mit Stolz und Freude trägt sie die heimliche Sorge um die Zahlungen, welche sie durch Arbeit und Opfer ermöglicht. Nie ist ihr der Gedanke gekommen, dass sie auch dem fremden Mann gegenüber, von dem sie geborgt, dass sie überhaupt Fremden gegenüber eine Verpflichtung haben könne. Sie steht dem Leben der Welt als unzurechnungsfähiges Kind gegenüber. Ihre Welt ist ihr Heim. Mit dem Niederreissen der Schranke, die sie von der Aussenwelt und deren Ansprüchen trennte, ist diese Welt ihres Heims unter ihr zusammengebrochen, als der Hauptpfeiler ihr fester Glaube an ihres Mannes seelische Hoheit zertrümmert dahinsank. Ihre Stätte kann nicht länger dort sein; nicht länger kann sie mit dem Manne leben, der ihr ein Fremder geworden. Sie verlässt Mann und Kind, und zieht einsam hinaus in die Welt, um sich allein das zu erwerben, was des Vaters wie des Gatten Liebeständelei ihrem Werden versagt hatte, und was ihr der Mann, der selbst den ihm errichteten Altar zertrümmert hat, nicht mehr gewähren kann. Wie er ihr bisher unbestrittene Autorität gewesen, so steht nun sie ihm als die unerbittlich Selbstentscheidende gegenüber, der er sich fügen muss. Ihre Natur, die ganz aus einem Guss ist, trägt den Sieg davon über einen Charakter, der halb sich selbst, halb der Welt Rechnung trägt.

Der tieftragische Schluss, auf den nur ein schwacher Schimmer von Hoffnung in Helmers Herzen einen leis mildernden Schein giesst, ist nothwendig, und unbegreiflich erscheint das an den Dichter gestellte Verlangen, ihn zu ändern, abzuschwächen. Diese mit grosser psychologischer Feinheit ausgeführte Herzenstragödie kann ihren folgerichtigen Abschluss einzig in dieser Trennung finden, die ja ein mögliches Wiederfinden in ferner Zeit nicht vollständig ausschliesst.

Der einzelnen feinen und schönen Züge sind zu viel, als dass es möglich wäre, sie besonders hervorzuheben; diese Züge der kindlichen Frau, deren Herz stets so sicher, so rein und gross empfindet, wie in der Scene mit Christine, in der grossen Scene mit Dr. Rank. Bewundernswerth ist das Geschick, mit dem der Dichter, trotz des gedämpften Lichtes, das auf Nebenpersonen wie Nebenhandlungen fällt, dennoch entschieden die Kontraste zwischen Christine und Nora, Günther und Nora, Rank und Helmer in ebenso scharfen wie feinen Zügen hervortreten, und Alle in den Fortschritt der Handlung eingreifen lässt durch charakteristische Betheiligung an der Herbeiführung der Katastrophe.

Möge das fein angelegte Schauspiel die würdige Darstellung finden, und möge das Publikum unserer Theater sich noch Empfänglichkeit bewahrt haben für das Verständnis eines Dramas, in dem die eigentliche Handlung eine rein innerliche ist.

   Berlin.

 M. Benfey. 

Publisert 22. mars 2018 14:20 - Sist endret 22. mars 2018 14:30