Otto Brahm

Nora på Berliner Theater anmeldt av Otto Brahm i Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirthschaft und Litteratur i Berlin 7. mai 1892 (Nr. 32, 9. Jahrgang).

Theater.

Berliner Theater: Nora. Schauspiel in drei Aufzügen von Henrik Ibsen ...

Die Kultur, die alle Welt beleckt, hat auf Herrn Barnay sich erstreckt: in das Haus, wo der «Hüttenbesitzer,» der «Kean» und die «Goldfische» Triumphe feiern, ist zum ersten Male Henrik Ibsen geladen worden. Oder vielmehr, der gegenwärtige Star des Theaters hat eine neue Rolle studirt, die den Hausfreunden vorzuführen war: nicht weil Ibsen die «Nora» gedichtet, sondern weil Frau Sorma für Gastspielzwecke die brillante Aufgabe ergriffen hatte, ist, auf dem Umwege über St. Petersburg, nun auch der meistumstrittene der lebenden Dramatiker an die Seite seiner Kollegen Ohnet und Schönthan gelangt.

Es hätte wenig Zweck, diese Vorgeschichte der jüngsten «Nora»-Aufführung hier nachzuerzählen, wenn sie nicht zur Erklärung des Geleisteten, ich meine: des Verfehlten, dienlich wäre. Aus dem Prozeß des Werdens Gewordenes zu begreifen, ist alte historische Methode; und Niemand wird sehr verwundert sein, zu erfahren, daß auf dem Dornenstrauch keine Feigen wuchsen. Das Virtuosenthum und Henrik Ibsen sie können nicht zu einander, denn ein tiefer Graben fließt zwischen ihnen: das hat Frau Niemann-Raabe erfahren, als sie einst nach der lockenden Rolle der Nora griff, und das erfuhr Frau Sorma jetzt, eine unserer besten neueren Künstlerinnen, auf deren Leistung man mit Recht begierig sein durfte.

Ich erinnere mich eines Gesprächs mit Ibsen, wo er sich gegen den Begriff der «Rolle» mit scharfer Rede auflehnte. «Da spricht man noch immer von Rollen am Theater», sagte er; «und die Schauspielerinnen fragen mich nach einer schönen Rolle. Das Wort kann nur Unheil stiften; fort damit! Ich schreibe keine Rollen, ich schildere Menschen!» Von solcher einfachen Einsicht, die ein ganzes, modernes Kunstprinzip umschließt, ist man an keinem Berliner Theater ferner, als eben am «Berliner Theater»; und Nora und alle um sie herum nur Herrn Krausneck darf ich ausnehmen, der den Ibsen-Stil festhielt alle, bis herab auf Noras Kinder, waren eifrig am Werke, ihre «Rollen» so wirksam wie möglich, so nuancirt wie möglich herauszubringen.

Gleich der Anfang des Stückes zeigte das, sein erstes Wort. Nora kommt mit dem Weihnachtsbaum und will den Dienstmann ablohnen; der Bote fordert funfzig Pfennig. «Da ist eine Mark», sagt sie, und als er herausgeben will: «Nein, behalten Sie das Ganze». Noras gutmüthige Verschwendung zu kennzeichnen, ihre Weihnachtslaune, ihr Glücksgefühl, das «vergnügt summend» ins Zimmer tritt, dazu steht der kleine Zug offenbar da; sie beschenkt den Dienstmann, wie sie alle Welt beschenken möchte. Frau Sorma aber genügt dies einfach Charakteristische nicht, sie setzt noch einen Drucker darauf: Nora muß zuerst ein wenig schwanken, sie muß thun, als ob sie den Rest des Geldes wiedernehmen will und dann erst darf sie sagen, mit einer «Nuance»: Na, meinetwegen, behalten Sie! Gerade so kennzeichnend, wie für Ibsens Nora die echte Exposition, ist für ihre Nora dieser erste falsche Ton: wo der Dichter eins sagt, wünscht sie drei zu sagen, und die reine Klarheit seiner Absichten entstellt sie. Läßt Ibsen Nora «vorsichtig» an die Thür von ihres Mannes Zimmer herantreten und lauschen, so öffnet Frau Sorma die Thür ganz gemüthlich, und blickt mit ihrer lieblichsten Schelmenmiene hinein; das Spiel mit den Makronen, die sie verbotenerweise ißt, reckt sie virtuosenhaft in die Länge, und als sie sie versteckt hat, muß der Mann, divinatorisch das Geborgene ahnend, darauf losgehen, auf daß sie, mit einem effektvollen Schrei komischer Verzweiflung, dazwischen fahren kann: und mit all solchen Mittelchen und wahllosen Zuthaten, die dem Stil der Dichtung naturgemäß zuwiderlaufen (denn wer könnte auch Henrik Ibsen nachdichten wollen?) wird die «Rolle» aufgeputzt und der darzustellende Mensch verfehlt. Ueber allerlei Nippessachen vergißt man den großen Sinn der Hauptfigur.

Denn was ist, auf seinen kürzesten Ausdruck gebracht, der Sinn dieser «Nora»?

Der Dichter schildert ein «Puppenheim», in dem die Hausfrau die große Puppe des Mannes ist, der Singvogel, der ihn umzwitschert, die Rebe, die sich an den Leben gebenden Baum gehorsam schmiegt. Ein Erbtheil des Leichtsinns liegt auf ihr und viele Verbildung; sie ist im Kleinen unwahr, fast ohne es zu wissen, sie ist erzogen, den Männern zu gefallen und darum nicht ohne Koketterie: daß sie «leidlich hübsch» ist, hat sie oft genug hören müssen, und so träumt sie in ihren Nöthen von einem reichen alten Verehrer, der sterbend kraft Testament alle Wirren löst. Naschhaft ist sie, spielerisch, ein Kind unter ihren Kindern: die Kleinen auszuziehen, findet sie «so amüsant» und rührt selbst kindisch an ein gefährlich Feuer, wenn sie in der Dämmerstunde mit dem Hausfreund vertraulich zusammensitzt. Aber unter all diesem, was nur Oberfläche ihres Wesens ist, Produkt sozialer Mißbildung und modischen Verzogenseins, steckt nun erst die eigentliche Nora, der leuchtende Kern ihres Wesens; und indem die Handlung ihn aufdecken hilft, scheint der Dichter uns zuzurufen: Seht her, was ihr aus der Frau gemacht habt; seht, was sie ist und was sie sein könnte! In dem Kind lebt eine Heldenseele, fähig des Opfermuthes und aller naiven Größe; und selbst als sie im Erwachen extremen Freiheitsdranges den Mann und die Kleinen verläßt wie hätte sie auch lernen sollen, die Weltfremde, Besonnenheit und Maß zu üben in solcher Stunde der Enttäuschung? selbst als sie fiebernd die Ehe auflöst, muß noch der Philistersinn des Mannes erklären: «Es ist etwas Wahres daran, was du sagst, so übertrieben und überspannt es auch ist».

Die Pflicht der Darstellung, solcher Figur gegenüber, liegt zu Tage. Unter der Oberflächen-Gestalt das Innere ahnen zu lassen und zwischen Nora, der Puppe, und Nora, die sich emanzipirt, zu vermitteln, ist ihre oberste Aufgabe; und alle diejenigen Momente sind daher stark herauszuheben, welche, theatermäßig sprechen, im ersten Akte schon den dritten vorausschauen lassen. Wohl verstanden: nicht auf Kosten künstlerischer Diskretion soll die Ueberdeutlichkeit eines denkenden Schauspielerthums das p. t. Publikum aufklären, es soll sich nicht aus dem Löwenkopf plötzlich ein Schnock der Schreiner herausstrecken und die Sache aufdringlich interpretiren; aber wenn z. B. Nora von ihrem heimlichen Uebersetzerthum erzählt, von der Seligkeit, zu arbeiten, und wie ihr dabei zu Muthe ward «fast wie ein Mann», so muß an solchen Perspektive gebenden Augenblicken die Darstellerin ebenso sinnvoll verweilen, als Frau Sorma harmlos an ihnen vorüberhuscht. Das Gemischte der Stimmung soll die Schauspielerin zum Ausdruck bringen, die flache Fröhlichkeit, die auf dem Grunde der Gedrücktheit und der Pein nur erwächst; Frau Sorma aber ist, auch als der bedrohliche Gläubiger schon schweren Schrittes durch ihr Puppenheim hindurch geschritten, wieder lustig, als wäre nichts geschehen, sie lacht unbekümmert mit dem Hausfreunde und all das feine Seelische der Dämmerstundenszene verflattert und verfliegt. Und wie es die Aufgabe hier ist, unter dem Kinde Nora die Heldin schauen zu lassen, so ist umgekehrt in der Starrheit und scheinbaren Kälte der großen Unterredung am Schluß doch wiederum die Naivität der Frau aufzuzeigen, die Naivität, welche «die Gesellschaft nicht versteht, in der sie lebt», welche «wie ein Kind spricht», und aus großen erstaunten Augen das entschleierte Wunder, ein erstes Mal, anschaut. Der einförmige, langgezogene Klageton, den Frau Sorma an dieser Stelle anschlägt, thut es nicht, er läßt das Gefühl eines völligen Bruches innerhalb der Gestalt erstehen, während man bei Ibsen allenfalls von einem zu lösenden Problem sprechen kann, dem aber der Darsteller auf die Spur kommen muß. Frau Ramlo in München und Signora Duse haben, so scheint es, gewußt, die komplizirte Rechnung aufgehen zu lassen; Frau Sorma hat die Differenz erst recht herausgestellt, und «für den Dichter zu denken», wie Lessings alte Forderung lautet, hat kein künstlerischer Berather sie gelehrt.

Es lohnte aber darum, so ausführlich von diesem Verfehlen hier zu reden, weil an einem konkreten Beispiel zu zeigen war, wie viel, nicht die erste Beste, sondern eine unserer bedeutendsten Künstlerinnen den großen, modernen Aufgaben noch schuldig bleibt, wie viel die deutsche Schauspielkunst an ihnen zu lernen und zu verlernen hat. Frau Sorma hat zu viel Lustspielwittwen gespielt und deutsche Backfische, zu viel Hüttenbesitzerinnen; und mit all ihrer schauspielerischen Anmuth und ihrer feinen Mimik steht sie nun doch vor Ibsen wie vor Räthseln und Wundern. Ihre gefällige und gefallsame Lieblichkeit, die zarte Ausdrucksfähigkeit ihres Gesichts, wo ein Spiel mit den Augenbrauen, ein Zucken der Mundwinkel Unendliches sagt, das bei geringem Umfang doch ergiebige, an Klängen reiche Organ jeder ihrer großen Vorzüge spricht auch aus der Nora uns an: «fehlt leider nur das geistige Band». Und darum mag ihr und ihren Genossen die Ibsendarstellung eine Kur sein, ein schauspielerisches Heilmittel, das vom Theatralischen zurückführt zu beseelter Natur.

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Otto Brahm.
Publisert 2. apr. 2018 14:35 - Sist endret 2. apr. 2018 14:36