Paul Schlenther

Nora på Berliner Theater anmeldt av Paul Schlenther i Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen (Vossische Zeitung) 29. april 1892 (No. 199).

Berliner Theater.

Donnerstag, den 28. April.   Zum ersten Male: «Nora». Schauspiel in 5 Aufzügen von Henrik Ibsen.

Als «Nora», die eigentlich «Ein Puppenheim» heißt, vor zwölf Jahren mit Frau Niemann-Rabe im Residenztheater aufgeführt wurde, fiel das Stück durch. Als es vor drei Jahren in einer von Ernst Possart meisterhaft geleiteten Vorstellung im Lessing-Theater gegeben wurde, hatte dasselbe Stück einen großen und andauernden Erfolg. Als es gestern zum Berliner Theater kam, wurden die beiden ersten Aufzüge mit stürmischem Beifall aufgenommen, und auch der Schlußakt fand lebhaftestes Interesse. Wenn die große Schlußwendung, in der der Sinn des ganzen Dramas liegt, nicht allseitig Glauben fand, so ist dafür die Darstellung verantwortlich zu machen. Und daß dies so kommen würde, haben wir während der Aufführung nur allzu bald vorausgesehen.

Frau Sorma besitzt genug persönliche Anmuth und genug schauspielerische Beweglichkeit, um über eine dichterische Gestalt zu täuschen. Aber zuletzt rächt sichs doch. Als Nora in der großen Scheidestunde von ihrem Gatten gefragt wird, ob sie denn nicht glücklich war, antwortet sie: «Nein, glücklich war ich nie; nur lustig.» Frau Sorma hielt sich an die Lustigkeit; sie gab das «Singvögelchen», die «Lerche». Aber hinter dieser Lustigkeit stand kein Glücksverlangen, keine Sehnsucht nach etwas Anderm. Diese Sehnsucht ist bei Nora nicht sentimental, sondern naiv und nur halb bewußt. Aber sie ist da, sie liegt wie hinter rosigem Schleier und macht sich momentweise sehr deutlich bemerkbar. Ueber all diese Momente huschte Frau Sorma am flinkesten hinweg. Da gab es kein Stutzen, kein Staunen, keine kleine Bedenklichkeit. Und als das Unglück über sie kommt, da wechselten Augenblicke schweren Kummers jäh ab mit harmlosester Laune. Ihr Lächeln blieb ein Lächeln ohne Weiteres, hinter dem keine Thräne lauerte. Dadurch ging durchweg die Schwüle der Stimmung verloren, der schwere Druck, der auf diesem Herzen lastet. Als sie die Tarantella tanzt, wundert sich der Gemahl über ihre «bange Wildheit». Ich sah nur die Wildheit, kein Bangen. Als sie die Stunden zählt, die ihr noch bleiben, jubelt Frau Sorma in des Lebens ungemischtester Freude, daß es noch 31 sind. Sie gab das Kind, aber nicht die ungewöhnliche Fähigkeit gerade dieses Kindes zum Mündigwerden. Das zarte Verhältniß zum todtkranken Hausfreunde wurde eine flache und fast fade Tändelei. Was der Wortlaut sagt, wurde gesagt; aber was alles hinter dem Wortlaut steckt, blieb stumm, und wo die Situation heißer wurde, da kamen virtuosenhaft aufgesetzte Effekte, die den Mangel an innerem Durchleben ersetzen sollten: melodramatische Tiraden, falsche Wolterschreie, pathetische Körperstellungen, die bei Ibsen vollends unangebracht sind. War diese Nora froh, so verfiel sie in den Schönthanstil; war sie ernst, so glaubte man die Waise von Lowood vor sich zu sehen. Und doch hat gerade Frau Sorma als Regine in den «Gespenstern» bewiesen, daß sie auch eine ausgezeichnete Ibsendarstellerin sein kann. Die Ergründung der Noragestalt ist eine Reise nach München werth. Dort giebt Marie Conrad-Ramlo die Nora mit einer großartigen Einfachheit und beweist den Schluß zur Evidenz. Frau Sorma, die ich für eine sehr gescheite und von kleinlichen Eitelkeiten freie Künstlernatur halte, sollte sich mal diese Münchner Nora ansehn und, ich vermuthe, sie wird dann ihre gestrige selbst verwerfen. Und warum sollte Frau Sorma bei richtiger Führung nicht eine halbwegs richtige Nora werden können?

Herr Kraußneck spielte den korrekten Helmer ziemlich korrekt, wenn auch etwas farblos. Jedenfalls aber war er von Allen der Beste. Der Schwächste war Herr Stahl als Doktor Rank. Wo blieb die Poesie des Leidens, der feine, überlegene Galgenhumor Eines, der sich mit dem Tode geeinigt hat? Ein Jammerlappen ist dieser Rückenmärkler keineswegs, sondern der muthige Träger eines schweren Schicksals. Frl. Butze als Frau Linde konnte mit ihrem feinen Empfinden dem stillosen, gröblichen Ganzen nicht viel helfen, und Herr Suske als Günther provinzlerte stark. Die Art, wie gekürzt worden ist, war der unvermeidlichen Langeschen Uebersetzung mit ihrem papiernen Stile würdig.

P. S.
Publisert 2. apr. 2018 14:31 - Sist endret 2. apr. 2018 14:32