Anonym anmelder i Weimarische Zeitung

Fruen fra havet ved Großherzogliches Hoftheater i Weimar anmeldt i Weimarische Zeitung i Weimer 14. februar 1889.

Großherzogliches Hoftheater.

Schauspiel.

*  Ibsens fünfaktiges Schauspiel «Die Frau vom Meere», das am Dienstag auf unserm Hoftheater zum ersten Male in Deutschland gegeben ward, ist ein interessantes Werk, das des Verfassers hervorragendes Talent aufs neue vielfach bewährt. Der Stoff ist unsern Lesern in seinen allgemeinen Umrissen aus dem Aufsatz des Herrn Dr. Schweitzer, der vor einigen Tagen mitgetheilt ward, bekannt. Ibsen zeigt uns den Hang des Weibes zum Unergründlichen, Unbekannten, die Sinne Bethörenden, der durch den Zwang einer innerlich unfreiwillig geschlossenen Ehe noch gesteigert wird. Die Heldin der Dichtung steht im Begriff, sich haltlos dieser Gewalt zu überlassen, die das Grauenhafte mit seinen phantastischen Einflüssen auf sie ausübt; da rettet sie die Erkenntniß der Liebe, die sie umgiebt, zumal des edlen bescheidenen Gatten, der im entscheidenden Augenblick sie frei giebt. Nun bricht ihr freiwilliger Entschluß, an der Seite des Gatten zu bleiben, den Zauber, der ihr Sein zu vernichten drohte, und sie gewinnt sich Leben und Liebe. Ibsen bewährt sich als ein scharfsichtiger Beobachter des weiblichen Gemüths in dieser dramatischen Behandlung eines Problems, das mehr oder minder für jede Frauenexistenz von großer, oft von tief einschneidendster Bedeutung ist, hier allerdings uns mitunter mehr in pathologischen als in psychologischen Zuständen begründet erscheint. Gleichwohl nimmt dasselbe unsere Theilnahme lebhaft in Anspruch. Freilich werden auch Bedenken namentlich in Bezug auf die Lösung desselben hervorgerufen. Darauf wird zurückzukommen sein nach einer kurzen Darstellung des Inhalts.

Die Handlung spielt in einem kleinen norwegischen Städtchen, das im Innern an einer Einbuchtung des Meeres gelegen ist. Es sind enge, dumpfe Verhältnisse, in die der Dichter uns führt: der Bezirksarzt Wangel mit seinen beiden jungen Töchtern erster Ehe, Bolette und Hilde, der Oberlehrer Arnholm, ein kränklich verkümmerter Bildbauer Lyngstrand, ein verkommenes Talent Ballested, der Maler, Tanzlehrer, Friseur zu gleicher Zeit ist, und es versteht, sich an kleinen Orten in unterschiedlichen Fächern zu akliimatisiren, kennzeichnen in sorgfältiger, mitunter etwas zu stark realistischer Charakterisirung vorzüglich den philiströsen Gesellschaftskreis dieser kleinen Stadt, in den niemals ein freier, erfrischender Luftzug dringt. Der Weltverkehr zieht an ihm vorüber, aber die braven Leute bleiben unberührt von ihm. Vortrefflich hat Ibsen es verstanden, in den ersten Szenen des Stückes den Alltagsuntergrund seiner Dichtung zu schildern, zugleich aber über denselben die gewitterschwüle Stimmung zu verbreiten, die in dem Zuschauer die Ahnung erweckt, daß das anscheinend unerschütterliche Alltagsdasein dieses urprosaischen Kreises durch heftige Krisen, wie sie nur aus tiefen Störungen des Seelenlebens hervorgehen, in jähe Bewegung gebracht werden wird. Ich meine, daß gerade in diesem meisterhaft verwertheten Gegensatz ein Hauptreiz der Dichtung liegt. Ibsen selbst deutet ihn gleich im Anfang des Stückes an: Ballested ist beschäftigt, ein Bild des Fjord mit seinen Inseln aufzunehmen: «Hier im Vordergrund» – sagt er zu Lyngstrand – «da soll eine halbtodte Meerfrau liegen.» Und auf dessen Frage: «Warum soll sie denn halbtodt sein?» entgegnete er: «Sie hat sich vom Meer hereinverirrt und kann jetzt den Ausweg nicht mehr finden und nun liegt sie da und geht in dem todten faulen Wasser zu Grunde.» Das todte faule Wasser ist das kleine dumpfe Nest am Fjord; die halbtodte Meerfrau ist Ellida, die Gattin Wangels. Auch diese gehört dem kleinbürgerlichen Kreise an. Sie ist die Tochter eines Leuchtthurmaufsehers an der Küste, aber sie ist aufgewachsen an dem großen freien Strand, in dem Anschauen des weiten Meeres von der Höhe des Thurmes herab – der rechte Platz für die Entwickelung des phantastischen Momentes, das in der Seele des Weibes so viel lebendiger ist als in der des Mannes. Das Unbekannte, das Grauenvolle, das von sich stößt und an sich zieht, übt wie das Meer seine gewaltige Anziehungskraft auf Ellida aus; es hatte sich für sie vor Jahren verkörpert in der Gestalt eines fremden Seefahrers, dessen Nähe sie mit magischer Gewalt ihres Willens beraubte, den sie gar nicht liebte, aber mit dem sie sich, obwohl sie wußte, daß er ein Todtschläger sei, in phantastischer Weise dem Meere verlobte, ehe er wieder hinaus in die See fuhr. Seiner Gegenwart entrückt, war Ellida frei von diesem Zauber des Unbekannten; sie löste brieflich ihr Verhältniß mit ihm, und vermählte sich mit Wangel, ohne innere Liebe, wie sie selbst sagt; wie er, bereits verwittwet, sie nur geheirathet habe, wie sie meint, weil er nach einer neuen Frau sich umsah, nach einer Mutter seiner Kinder suchte, so habe auch sie sich ihm vermählt, nur weil sie hilflos, rathlos und so ganz allein gewesen sei. Gleichwohl gestaltete sich ihre Ehe gut in den ersten Jahren; Ellida bleibt zwar den beiden Töchtern ihres Gatten aus erster Ehe ferne, aber Wangel bewahrte ihr die Liebe eines treuen Herzens. Da, mit einem Male nach dem Tode ihres Kindes kam das Grauenhafte wieder über sie; des Kindes Augen, deren Farbe mit der der See wechselte, waren die Augen des fremden Mannes gewesen. Zwar weiß sie nichts von diesem, ob er todt ist, ob er noch lebt. Aber sie ahnt, daß er lebt, daß er kommen wird, sie zu sich zu nehmen, wie er einst gelobt.

In der That, ein englischer Dampfer bringt den Fremden, der nun vor Ellida tritt und die Erschreckte auffordert, mit ihm zu gehen; am Abend des nächsten Tages komme er wieder, dann müsse sie bereit sein. Und Ellida steht wieder ganz unter dem Bann des Grauenhaften; sie will mit ihm gehen, willenlos, ohne ihn zu lieben, ihm folgen; sie fordert deshalb von Wangel, daß er sie freigiebt, denn sie sei nicht freiwillig in sein, Wangels, Haus gekommen; jetzt sollten sie sich beide wenigstens freiwillig trennen. Vergebens sind Wangels Mahnungen und Bitten; sie beharrt auf der Trennung und er willigt ein. Da macht ein schmerzlicher Ausruf aus dem Munde ihrer jüngsten Stieftochter Hilde sie stutzig; jetzt zum ersten Male erfaßt sie der Gedanke: sollte hier noch eine Aufgabe für mich sein? Sie hat eben kein Auge gehabt für die Liebe, die in ihrer bescheidenen Alltäglichkeit sie umgeben könnte und es vernachlässigt, die Herzen, die nach Liebe verlangten, an sich zu ziehen. Das ist ihre tragische Verschuldung, wobei allerdings zu ihrer Rechtfertigung gesagt werden muß, daß bis zur letzten Szene im 4. Akt auch der Zuschauer keine Ahnung davon hat, daß die Stieftöchter sich ihrer Liebe zugänglich erweisen würden. Nun tritt wieder der Fremde vor sie hin und fordert sie für sich. Jetzt läßt Wangel ihr volle Freiheit zu wählen, weil er sie so tief liebe, daß er lieber auf sie verzichten wolle, als sie an seiner Seite zu Grunde gehen lassen: sie soll frei wählen und unter eigener Verantwortung. Dies Wort lehrt sie den rechten Weg finden. Es bricht den Zauber; der Fremde hat keine Gewalt mehr über sie; das Grauenhafte zieht sie nicht mehr an, sondern stößt sie ab. Ellida bleibt bei Wangel und den Kindern. Die halbtodte Meerfrau stirbt, weil sie nicht zum Meere zurückkehren kann; der freie und für seine Handlungen verantwortliche Mensch lebt in der Beherrschung des Hanges zum Unbekannten, Unergründlichen, das ihn mit sinnlichen Reizen gewaltsam anzieht. So klingt die Dichtung mit einem recht volltönenden sittlichen Pathos aus, das uns im ersten Augenblick befriedigen möchte. Allein bald stellen sich doch kritische Zweifel an der Echtheit desselben ein: hat denn nicht Ellida längst, mag sie auch die Ehe geschlossen haben unter dem Einfluß äußerer Umstände, Gelegenheit gehabt zu erkennen, daß sie völlige Freiheit besaß, um die ernsten Aufgaben zu erfüllen, die hier an sie herantreten? mußte sie sich nicht längst der hohen Verantwortlichkeit bewußt werden, die sie dem Gatten, den Stieftöchtern gegenüber zu tragen hatte? Und ist es anderseits nicht ein etwas bedenkliches rein experimentatives Verfahren Wangels, wenn er im entscheidenden Augenblick Ellida Freiheit giebt zu handeln wie sie will, während ihm doch das klare Verständniß seiner wahren Verantwortlichkeit stets sagen muß, daß es seine Pflicht sei, mit allen Mitteln seiner Stellung zu verhindern, daß Ellida sich den phantastischen Lockungen willenlos hingebe? Mir scheint, daß beide, Ellida und Wangel, mit Worten spielen und sich und uns mit den sittlichen Begriffen, die sie am Schluß geltend machen, täuschen. Der Ausgang der Dichtung entbehrt daher meines Erachtens der innern Wahrheit und wirkt deshalb unbefriedigend. Er ist überdies vom Dichter rein äußerlich herbeigeführt, denn auch die Liebe, die Hilde für die Mutter am Schluß des 4. Aktes in für den Verlauf des Stückes bestimmender Weise ausdrückt, kommt unvermittelt und äußerlich. Jetzt hören wir mit einem Male, daß Hilde Tag ein Tag aus nach der Liebe der Mutter geschmachtet habe, aber gesehen haben wir bis dahin davon nichts. Diese Mängel bewirken, daß gegen den Schluß die Theilnahme an der Dichtung sich erheblich mindert. Dieser selbst aber bildet keinen Abschluß des Dramas, denn ernstlich glaubt wohl kein Zuschauer an die endgültige Befreiung Ellidas von ihren Wahnvorstellungen.

In technischer Beziehung ist das Schauspiel mit großem Geschick gemacht; mit einfachsten Mitteln erzielt Ibsen oft eine große Wirkung. Der Aufbau und die Entwickelung der Handlung sind vortrefflich: der Dichter weiß uns von vornherein in Spannung zu versetzen und diese in glücklicher Steigerung festzuhalten. Der Dialog ist knapp, vortrefflich zugespitzt und reich an Gedanken. Die Charaktere sind lebensvoll und zum Theil plastisch gezeichnet. Die Gestalten der Ellida und Wangels wachsen vor unsern Augen mächtig in die Höhe; immer weiter verschwindet vor unsern Augen der philiströse Gesellschaftskreis, der den Rahmen und den Hintergrund des Dramas bildet, je mehr sich das Problem selbst erschließt und uns auf die Höhen des innerlichsten, menschlichen Seelenlebens führt. Aber, wenn dies voll für Wangel gilt, die beste Gestalt der Dichtung, so doch nur mit erheblichen Einschränkungen für Ellida selbst. Zwar beruht der Grundgedanke, der das Fundament ihrer Erscheinung bildet, auf einer scharfen und seinen psychologischen Erfassung besonderer Seiten in der Wesenheit der Frauen, allein Ibsen hat hier den realen Boden, auf dem er sonst zu fußen pflegt, zu sehr verloren; in dem Bestreben diese Gestalt und realistisch nahezubringen, geräth er in bedenklicher Weise auf das rein pathologische Gebiet. Auch hier bewährt er sein Talent, aber wir folgen ihm nicht mit dem tiefen Empfinden, das uns die Behandlung eines allgemein giltigen Konfliktes aus der Tiefe des allgemein menschlichen Empfindungslebens abnöthigt, sondern mit dem Interesse, das ein abnormer Einzelfall in virtuoser Behandlung einflößt. Unsere unmittelbare Theilnahme für Ellida erlischt. Ganz bedenklich steht es mit der Gestalt des Fremden, nicht in allgemein dichterischer, wohl aber in dramatischer Beziehung. Mit diesem Fremden hat sich die Phantasie des Zuschauers natürlich in lebhaftester Weise beschäftigt; mit Spannung sieht man ihm entgegen, und wenn ich nun auch nicht eine gespenstische Erscheinung in der Art des fliegenden Holländers zu sehen erwarte, so doch jedenfalls eine bedeutende Individualität. Aber dieser Fremde hat gar nichts Bedeutendes; nicht in seiner äußern Erscheinung, trotz der buschigen und röthlichen Haare und dito Bart, die der Dichter vorschreibt, macht der Fremde mit der schottischen Mütze und der am Riemen getragenen Reisetasche, wie er am Gartenzaune steht, ganz den Eindruck, als gehöre er durchaus zu dem Philisterkreise der kleinen Stadt; aber auch seine innere Wesenheit läßt der Dichter nicht über das Mittelmaß der Alltäglichkeit heraustreten; nirgendswo macht sich in ihm ein Zug energischer Leidenschaft mit elementarer Kraft bemerkbar. In der letzten Szene zieht er allerdings einen Revolver hervor und erklärt, der sei zu eigenem Gebrauch, denn er wolle leben und sterben als ein freier Mann. Aber seine letzten Worte: «Leben Sie wohl, Frau Wangel. Von jetzt an sind Sie nichts mehr, als ein überstandener Schiffbruch in meinem Leben,» berechtigen zu der Annahme, daß er den Revolver ruhig wieder einsteckt und mit dem Dampfer seine Reise fortsetzt. Der «Fremde» macht den Eindruck eines spleenigen Engländers, und man fragt sich erstaunt: wie ist es möglich, das er auf Ellidas ganzes Seelenleben so wirken konnte? Eine solche Gestalt, wie sie hier der dichterischen Phantasie vorschwebt, für die Bühne zu zeichnen, ist eine schwere Aufgabe, geradezu eine Klippe für einen allem Romantischen abgewendeten Realisten wie Ibsen. Die Annahme, daß der Dichter hier etwa ein satyrisches Moment hätte zur Geltung bringen wollen, indem er zeigte, daß auch das an sich Unbedeutende für eine Frau wie Ellida von gefährlicher Bedeutung werden könne, ist natürlich zurückzuweisen: dazu ist die Dichtung zu hoch genommen, als daß man dem Dichter solche Scherze unterstellen dürfte. Auch die Gestalten Bolettes und Hildes, wenigstens die der letzten, geben zu Bemerkungen einige Veranlassung, insofern, als der Dichter unterlassen hat, auch nur mit einigen leichten Strichen anzudeuten, daß in Hilde wirklich so etwas wie ein schmerzliches Empfinden für den Mangel der Mutterliebe von Seiten Ellidas vorhanden ist. Aus dem Kontrast allein lassen sich solche Empfindungen nicht folgern.

Die Aufnahme, die das Stück gefunden hat, war eine sehr getheilte. Sichtlich konnte sich das Publikum nicht recht in die Dichtung hineinfinden mit ihren so seltsam berührenden aber doch stimmungsvoll wirkenden Gegensätzen; auch mochte wohl der Umstand, daß hier Ibsen, der Realist par excellence romantisch angekränkelt erschien, fremdartig berühren. Aber so deutlich auch die Schwächen des Stücks hervortreten, eine Bedeutung wird man demselben nicht absprechen können; das zeigt schon der Umstand, daß die Diskussion, die sich an dasselbe knüpft, eine überaus lebhafte ist. Ganz unberechtigt aber waren die Mißstimmungszeichen, die am Schlusse laut wurden, dazu steckt denn doch zu viel Geist und Können in dem Stück, als daß man es einfach ablehnen könnte. Die Aufführung war eine vorzügliche und fand seitens des Publikums in den wiederholten Beifallsrufen den wohlverdienten Dank. Frl. Jenicke gab die überaus schwierige Rolle der Ellida mit so viel Wahrheit und echter Wärme der Empfindung und wußte in Mimik, Bewegungen und Modulation der Sprache so fein und sicher die Rolle zu gestalten, daß ihr die vollste Anerkennung ausgesprochen werden darf. Herr Brock war vortrefflich als Dr. Wangel: die Gestalt wuchs bedeutend in die Höhe in seiner überaus wirksamen Darstellung derselben. Auch die kleineren Rollen waren gut besetzt: die beiden Töchter wurden durch Frl. Schmittlein (Bolette) und Frau Lindner-Orban (Hilde) sehr wirksam gegeben. Herr Neuffer gab den kränklichen Lyngstrand anfänglich mit zu viel Realismus, doch mäßigte er später diese peinlich berührende Darstellung des Schwindsüchtigen. Herr Wegner gab die etwas eintönige Rolle des Oberlehrers Arnholm ganz den Intentionen des Dichters gemäß. Herrn Wiedey war die bedenkliche Rolle des Fremden zu Theil geworden; er machte daraus, was zu machen ist. Herr Fischbach war sehr ergötzlich als Ballested.

Auf die Inszenirung des Stückes war die größte Sorgfalt verwendet; sie war in jeder Beziehung des besten Lobes werth.

Publisert 6. apr. 2018 09:52 - Sist endret 6. apr. 2018 09:52