Eugen Sierke

Gespenster på Residenz-Theater Berlin anmeldt av Eugen Sierke i Tägliche Rundschau i Berlin 11. januar 1887.

Theater und Musik.

* Berlin, den 10. Januar.   Residenz-Theater.   «Gespenster», Familiendrama in 3 Akten von Henrik Ibsen.

Es ist in gewissem Sinne zu bedauern, daß die gestrige Aufführung der «Gespenster» die einzige bleiben wird. Denn es kann schwerlich ein lehrreicheres Beispiel für die Entartung gefunden werden, der die dramatische Kunst mit unaufhaltsamer Nothwendigkeit verfallen muß, wenn sie fortfährt, im Sinne der Franzosen dem Phantom der nackten Wahrheit nachzusagen und darüber die ewigen Gesetze der Schönheit, ohne die es keine Kunst giebt, leichtmüthig zu verachten; wenn sie fortfährt, aus ingrimmiger Lust an der Zerstörung des Ideals und an der grausamen Vertilgung jedes tröstlichen Gedankens in den Schwären herumzuschneiden, die der kranke gesellschaftliche Organismus in Ausnahmefällen heraustreibt, und uns nur an den Sezirtisch zu zerren, um sich an dem Grausen zu weiden, mit dem uns der unheimliche Anblick des Werkes kunstgerechter Zergliederung erfüllt. Während bei den Franzosen die Schwindsucht oder der Selbstmord das Fazit des großen Lebensexempels bildet, tritt dasselbe hier in der neuen Gestalt ererbter Gehirnerweichung, einer Folge väterlicher Ausschweifung, vor das Auge des entsetzten Zuschauers, und der Rest ist Verzweiflung und Tod. Wenn das die Aufgabe und das Ziel der modernen Kunst ist, so würde man unbedenklich das erbarmungslose «écrasez linfame!» zu wiederholen haben, welches das Nichts an die Stelle von etwas Fürchterlichem zu setzen vorzieht. Auf den Inhalt des Stückes näher einzugehen, ist in einem Blatte unmöglich, welches auf sittlich zart empfindende Frauen Rücksicht zu nehmen für seine Pflicht hält. Ueberdies kann sich Jeder für 20 Pfennige die deutsche Uebersetzung aus der Reclamschen Bibliothek beschaffen. Aber nicht nur die erbarmungslose Hervorzerrung des entsetzlichsten Familienjammers und ehelicher Geheimnisse verhängnißvollster, ja sogar scheußlichster Art (der Arzt hat von dem verstorbenen Gatten gesagt, daß er ein ruchlos lasterhaftes Leben führe, also schon mehr Gegenstand der Pathologie als der Moral sei!), sondern auch der Mangel an aller poetischen Gerechtigkeit, an einer weise angelegten Schicksalsökonomie berührt in dieser Dichtung so schrecklich verdüsternd. Da ist eine unglückliche Frau, die an einen Wüstling gekettet, ihr Leben in seelischer Nacht verseufzen muß, da ist ein mit aller Liebe und Fürsorge vor der Ansteckung durch das moralische Gift des Familienjammers gehütetes Kind, ein talentvoller Maler, der an dem alttestamentarischen Fluch unschuldig zu Grunde geht, daß die Sünden der Väter an den Kindern gerächt werden, da ist ein Schurke von einem heuchlerischen Augendiener, der eine Brandstiftung verübt und dabei einen wackern Geistlichen, seinen Wohlthäter, zu dem Glauben bringt, er sei der Urheber des Brandes, und der schließlich sich scheinbar zum Sündenbock für Jenen macht; da ist ein junges Mädchen, die natürliche Tochter des verstorbenen Wüstlings, welches, eine lebendige Verkörperung der Theorie von der Erbsünde, uns einen Abgrund moralischer Abscheulichkeit zeigt und wahrhaft empörend wirkt, da ist endlich der bereits genannte Geistliche, ein Mann von reinstem Gemüthe und stählernem Charakter, von edelster Gläubigkeit und echt evangelischer Gesinnung, aber einseitig und befangen in der zelotischen Auffassung seines Pflichtbegriffs, welcher trotz allen Verstandes und aller Ehrenfestigkeit, sich von jenem scheinheiligen Augenverdreher gröblichst täuschen läßt und unwissentlich in seiner unvorsichtigen Einfalt ein Werk des Lasters fördert: sind das nicht Dinge und Verhältnisse, welche jedes moralische Empfinden aufs Tiefste empören und beleidigen müssen? Und warum das Alles? Damit wir einmal recht tief in die Schlünde blicken sollen, von denen das menschliche Leben durchklüftet ist! Oder will uns der Verfasser etwa von der Richtigkeit der These überzeugen, daß eine Frau, welche den unbändigen Lebensdrang einer vulkanisch-explosiblen Kraftnatur ungebührlich einschränke, selbst schuld daran sei, wenn ihr häusliches Glück in verbotenem Genuß untergeht? Dann hätte die Charakteristik des Verstorbenen nicht von vornherein diesen als einen grundschlechten, geistig wie sittlich verkommenen Lüstling hinstellen dürfen. Genug, wohin wir auch den Blick richten überall stoßen wir auf Widerwärtiges, Abschreckendes und Niederdrückendes. Und doch soll die Kunst uns den Frieden der Seele bringen, erheben und läutern. Entwickelt sie sich im Sinne des rücksichtslosesten Realismus nach dem Ibsenschen Vorbilde weiter, so gelangen wir dahin, daß die Bühne schließlich zur Morgue oder zur Klinik wird. Diese Ausstellungen gegen das Prinzip und die Gattung sollen freilich nicht zugleich auch die hohe Meisterschaft in Abrede stellen, von denen die Behandlung des Dialogs und die Erfindung der einzelnen Motive zeugt. Es ist kein Zweifel, daß ein scharfer Verstand und eine hohe menschliche Auffassung aus diesem Werke sprechen, wie sehr es ihm auch an dichterischer Erhebung mangelt. Ueber die trostlos pessimistische Philosophie, von der Ibsen ausgeht, zu streiten, wäre Thorheit; die gehört zum modernen Realismus. Aber es muß anerkannt werden, daß er von seinem Standpunkte aus dieselbe mit außerordentlich treffender Dialektik und mit unerbittlicher Folgerichtigkeit zur Geltung bringt freilich nicht ohne einen Zusatz von Mystizismus, denn die «Gespenster», von denen die Rede ist, sind doch nur unklare fatalistische Wahngebilde und nicht, wie er glauben machen möchte, darwinistische Thatsachen der Vererbung. Auch wenn wir es nicht wüßten, würde die gedankenvolle und dabei doch so knappe und schlagende Sprache, die Schärfe der Charakterzeichnung und die Kunst in der Verwebung der Fabel mag ihr auch die rechte Idealität abgehen zeigen, daß wir es mit einem großen Dichter, dem größten, den Norwegen jetzt besitzt, zu thun haben. Daß Ibsen ein höchst interessanter literarischer Charakterkopf von eigenartigem Gepräge ist, zeigte sich schon vor einem Jahrzehnt, als seine «Stützen der Gesellschaft» ihn in Deutschland bekannt machten. Schade, daß seine Eigenart sich inzwischen beinahe bis zur ästhetischen Verzerrung ausgebildet hat. Die Aufnahme des Stückes war eine gradezu enthusiastische nach dem ersten Akt, dessen Länge und Redseligkeit Viele freilich ein wenig enttäuschte; nach dem folgenden wurde die Stimmung immer verlegener, obschon man dem Dichter und den Darstellern in häufigen Hervorrufen lebhafte Huldigungen bereitete. Am Schlusse machte sich ein Gefühl von Bedauern geltend, daß so viel Kunst an eine verlorene Sache verschwendet worden war. Man schied mit einer Dissonanz in der Seele. Die Darstellung war über alles Lob erhaben. Obschon man eine Wohlthat nicht kritisiren soll, darf die Darstellung auch die schärfste Kritik nicht fürchten. Welch eine Summe von heiligem Eifer, Fleiß und künstlerischem Ernst war an sie gewendet worden! Alles war auf den einen düsteren Ton gestimmt, der wie eine schwere Schicksalsahnung die Dichtung durchklingt. Nebelgrauer Ernst und freudlose Resignation draußen in der Natur und drinnen in den behaglichen Räumen der Reichen, die das Glück floh: im wahren Sinne «stilvoll». Welch ein vorzüglicher Künstler Herr Reicher im Fache der starken Charaktere ist, das hat er gestern von Neuem mit seinem Pfarrer Manders gezeigt, an dem jeder Ton lebenswahr und doch von hoher künstlerischer Eigenart war. Wie warm und treu hat er den stillen Frieden dieses weltabgewandten Priesters geschildert, dessen Seele keinen menschlichen Schwächen zugänglich scheint! Wie schlicht und einfach hat er die Sprache des überzeugten Mannes geredet und wie beredt seine Maske gestaltet: eine Leistung, die das Interesse von vornherein gefangen nahm und nicht wieder los ließ. Daß Frau Frohn für die bedeutenden, thatkräftigen Frauen, deren Herz durch die Schule des Unglücks gegangen ist, auch in dieser Rolle die eindringlichsten Töne der schmerzlichen Wehmuth, der leidenschaftlichen Aufregung und der hingebendsten Mutterliebe gefunden hat, braucht Dem nicht weiter dargelegt zu werden, der ihre Georgette kennt. Mit bewundernswerther Selbstentäußerung ihres eigenen Seins weiß sie sich in dieses fremde Gemüthsleben zu versenken und alle feinen Regungen desselben in Ton und Geberde lebendig wiederzugeben. Herr Würzburg bot als Tischler Engstrand eine fein abgewogene, in ihren kleinsten Einzelheiten sorgfältig ausgearbeitete Charakterstudie, bei der die zarte Linie des künstlerisch Geschmackvollen und Wahren gewissenhaft inne gehalten wurde und höchst interessant wirkte. Frl. Schüle gab die gemüthlose und abgefeimte Kammerzofe mit dem nöthigen Zusatz von lüsternem Cynismus und Herr Wallner den träumerischen Sohn mit einem Gemisch von Weichheit und tragischer Verzweiflung, das an ihm, dem Darsteller von Gecken und Dümmlingen, überraschte. Freilich vermag er den düster-tragischen Gehalt dieser aus seltsamen Gegensätzen gebildeten Natur nicht zu erschöpfen, aber die Hauptzüge zeichnete er mit großem Geschick. Neben den Darstellern wurde auch Herr Direktor Anno mehrmals stürmisch gerufen.

E. Sierke.
Publisert 21. mars 2018 10:58 - Sist endret 21. mars 2018 11:05