Oskar Blumenthal

Gespenster på Residenz-Theater Berlin anmeldt av Oskar Blumenthal i Berliner Tageblatt 10. januar 1887 (Nr. 16, XVI. Jahrgang).

Henrik Ibsens «Gespenster.»

So haben wir uns denn endlich durch die nordische Krankheits-Tragödie hindurch gequält, mit der wir nun schon Wochen lang geängstigt wurden durch dieses überhäßliche psychiatrische Trauerspiel, das nicht mit dem körperlichen, sondern mit dem geistigen Tode seines Helden endigt und uns eben deshalb so unerträglich, martervoll aufs Herz drückt. Zu ungewohnter Stunde, aus dem hellen Mittagslicht heraus, sind wir in die Peinlichkeiten dieses Werkes eingetreten. Und wie athmeten wir erleichtert auf, als wir aus dem widrigen Hospitaldunst in den reinlichen Frosthauch des Januartages endlich zurückkehren durften! Man wird dankbar gegen die freie Gottesluft, gegen jeden fröhlichen Strahl der Sonne, dankbar gegen Alles, was Leben und Gesundheit athmet, wenn man aus den Klammern einer Dichtung entlassen wird, welche die Schaubühne in ein anatomisches Theater und den Zuschauerraum in den Lehrsaal einer Klinik verwandelt.

Der Ausgang der Vorstellung war kein kampfloser. Nur der erste Akt fand einwendungslosen Beifall. Nur hier gelang es dem Poeten, uns durch die Meisterschaft der Form über alles Peinliche des Stoffes hinwegzureißen. Als aber in den folgenden Aufzügen nur immer Abscheulichkeit an Abscheulichkeit gereiht und mit roher Beherztheit das Gräßliche auf das Gräßliche gethürmt wurde, empörte sich die Mehrheit der Zuschauer mit sehr berechtigten Lauten des Widerspruchs gegen ein Schauspiel, das nach dem Hexenspruch gedichtet zu sein scheint: «Schön ist häßlich, häßlich ist schön». Und von dieser unwirschen Ablehnung des Werks kann uns auch der leuchtende Dichterruhm Henrik Ibsens nicht fernhalten. An das Gewicht der Werke, nicht an den Klang der Namen knüpft sich unsere Verehrung. Und immer haben wir es für die Pflicht der Kritik gehalten, auch die glänzendsten Münzen nur nach ihrem Gehalt zu beurtheilen, aber nicht nach dem Portraitkopf, der heraufgeprägt ist.

Durch die Thatsache, daß die Censur in Berlin wie an anderen Orten dem Dichter nur für eine einzige Vorstellung das Wort gönnen wollte, hat sich um die «Gespenster» etwas von dem zweideutigen Interesse gebreitet, das man den Verhandlungen mit Anschluß der Oeffentlichkeit entgegenbringt. Wie beschämend ist diese Erscheinung! Ibsen hat seit zwei Jahrzehnten eine Reihe der kraftvollsten, gesundesten Bühnenwerke geschaffen. Aber an den meisten sind die deutschen Theater stumpf und danklos vorbeigegangen. Das Schauspiel «Ein Volksfeind» harrt noch heute der ersten Aufführung. Und doch ist es ein Werk voll Mark und Ehrlichkeit, voll wirksamer Vorgänge und Kämpfe, voll schärfster Blicke in Gesellschaft und Leben. In seiner «Nordischen Heerfahrt» bietet uns Ibsen die eigenthümlichste Gestaltung der Nibelungensage, und zwar ohne Wortprunk und Phrasenrausch, in einer scharfkantigen und knappen Prosa, in der Reden und Gegenreden wie Stahl und Stein aufeinanderschlagen. Für unsere deutschen Bühnen ist auch dies Werk nicht auf der Welt. So wenig, wie die tiefdeutigen Gedankendramen «Brand» und «Peer Gynt» oder das lebendig bewegte politische Schauspiel «Der Bund der Jugend».

Aber nun der Dichter endlich in Stunden der Verdüsterung ein kernkrankes Werk schuf, voll bizarrer Wagnisse und naturalistischer Ausschweifungen, da plötzlich widmen ihm unsere Theater einen fieberhaften Eifer. Unser Publikum drängt sich begehrlich zu der Vorstellung des Stückes, das sich einen so verführerisch schlechten Ruf zu erwerben gewußt hat, und die Bühnenleiter verlangen am Ende gar unsern Dank dafür, daß sie es auf die Bretter gestellt haben. Wir bedauern, diesen Dank versagen zu müssen. Denn gegen Henrik Ibsens «Gespenster» schreit Alles in uns auf, was sich ästhetische Schamhaftigkeit, was sich künstlerische Erziehung nennt.

Eine dreiaktige Krankheitsgeschichte ist der Inhalt des Schauspiels. Es zeigt uns die fortschreitende Entwickelung eines ererbten Hirnleidens, vom ersten quälenden Kopfschmerz an bis zum Ausbruch der Gehirnerweichung auf offener Szene. Und die Darstellung dieses körperlichen Zerstörungsprozesses sollte noch im Grenzbezirk der Bühnenkunst liegen? Ludwig Börne schrieb einst, als er Ifflands «Spieler» zu beurtheilen hatte: «Die Spielsucht auf die Bühne bringen? Man könnte ebenso gut die Schwindsucht dramatisiren, durch alle Stadien hin, von dem Augenblicke, daß der junge Mensch nach dem Walzer ein Glas kaltes Wasser trinkt, bis er seinen Geist aufgiebt» Als eine Ungeheuerlichkeit erschien dem strengen Kunstgefühl Börnes dieses pathologische Beispiel. Und wie weit ist es doch noch hinter den Wahnsinnsstudien zurückgeblieben, die uns Henrik Ibsen in seinem Drama vor Augen rückt

Durch eine Anlehnung an Darwin hat der Dichter freilich diesen Szenen eine gedankliche Vertiefung gegeben. Was der englische Naturforscher das Gesetz der Vererbung nennt, der norwegische Dichter nennt es die «Gespenster», die sich uns von Vätern und Urvätern her in Leib und Seele, in Hirn und Adern hineinerben und die unsichtbar sichtbar um uns, neben uns, in uns spuken. Ihre Wirkung ist es, wenn sich das allzu lustige Leben der Väter an der Gesundheit der Söhne rächt. Mit fürchterlicher Entschlossenheit wird diese Lehre veranschaulicht. Der Leichtsinn, der nur immer lachend die Stunde umarmt, wird mahnungsvoll auf den Zusammenhang der Geschlechter gewiesen, und gegen die Jagd nach Glück und Genuß setzt ein geistlicher Philosoph das Wort ein: «Das ist gerade der Geist des Aufruhrs, der immer das Glück hier im Leben anstrebt. Welches Recht haben wir Menschen denn ans Glück?» Ein Wort, das in ahnungsreichem Tiefsinn eine ganze Weltanschauung umspannt

Aber der Gedankenreiz, der uns in diesem Gespräche fesselt, wird unter den Wirklichkeiten, die der Dichter auf die Bühne schleudert, schnell erstickt und begraben. Hinter der modischen darwinistischen Verkappung erkennen wir bald die alte, häßliche Fratze der Schicksalstragödie, wenn der Held des Dramas nicht durch eignes Verschulden, sondern durch ein angeerbtes Verhängniß seinen Untergang findet. In der peinlichsten Strecke des Stückes droht ein blutschänderischer Ehebund zwischen Bruder und Schwester, und wir erhalten die behagliche Versicherung, daß Dergleichen unbewußt in vielen Familien vorkommt. Ist Dem wirklich so in norwegischen Landen? Nun, so wollen wir die Luft dieser Seuchenzone nicht nach Deutschland hineinwehen lassen. Und nun die Gestalt des frömmelnden Trunkenbolds, der Kupplerkünste vor unseren Augen übt, eine Brandstiftung hinter der Szene vollbringt wie steigt uns da eine Mischung von Schnapsgeruch und Kohlendampf betäubend entgegen! Pein folgt auf Pein, bis endlich in dem eintönigen Lallen des Blödsinns das Schauspiel ausklingt Wer soll für ein so quälendes Werk dem Dichter dankbar sein? Nur wer in seinen Neigungen so tief heruntergekommen wäre, wie jene greisen Lüstlinge, die nur noch unter Ruthenstreichen ihr Blut erwärmen, könnte an diesen dramatischen Geißelungen Gefallen finden.

Es gehört einige Selbstbemeisterung dazu, um dem Widerspruch gegen das Gesammtwerk noch eine unbefangene Würdigung der Einzelheiten abzutrotzen. Die Regie zeigte ihre Sorgfalt diesmal vor Allem in der einheitlichen düsteren Stimmung, die sich von Anfang bis zu Ende über die Szene breitete. Von den Darstellern hat Herr Reicher durch die schlichte Kunst, mit der er die edle Einfalt des Pastor Manders zum Ausdruck brachte, und Herr Würzburg durch den erbarmungslosen Wahrheitsmuth, mit dem er seine peinliche Rolle ausschöpfte, verdienten Beifall gewonnen. Frau Frohn fand im letzten Akte ergreifende Töne, und Fräulein Schüle brachte durch ihre frische Zofenkeckheit die einzigen Lichtblicke in die tiefe Düsterniß. Dagegen hat Herr Wallner sich mit der Hauptrolle des Stückes eine Aufgabe zugemuthet, die weit über die Grenzen seines künstlerischen Vermögens hinausgeht. Bei der redlichsten Anspannung aller Kräfte konnte der Darsteller nur den Eindruck eines Unglücklichen machen, der ein allzu schweres Gewicht vom Boden heben will: Der Athem jagt, die Brust keucht, der Schweiß thaut aus allen Poren, aber das Riesengewicht bleibt ungehoben auf der Erde liegen so ungehoben, wie die schauspielerischen Wirkungen in der Rolle.

Und nun noch ein abschließendes Wort. Es hat von jeher kritische Wirrköpfe gegeben, welche in jeder Darstellung des Häßlichen einen Triumph der Kühnheit und in jeder Schilderung des Ekeln einen Sieg der Wahrheit erblickten. Denn von der Gedankenlosigkeit sind immer und überall die Verleumder des Lebens als die Kenner des Lebens bewundert worden. Das Kornfeld ist eine Lüge, aber der Sumpf ist Wirklichkeit; das Veilchen ist erfunden und nur die Stinkwurzel ist wahr das ist in nuce die Kunst- und Weltanschauung dieser Halbdenker. So hat man denn auch Ibsens «Gespenster» als eine Schöpfung von revolutionärer Ehrlichkeit gefeiert. Selbst die klinischen Bilder des letzten Aktes wurden als kühne Thaten gepriesen. Und diese Lobpreisung wäre auch gewiß nicht schüchterner gewesen, wenn der Dichter statt an einer Gehirnkrankheit etwa an einem Nierenleiden oder an einer noch ekleren Verderbniß der Säfte den Fluch der Vererbung gezeigt hätte. Henrik Ibsen hat eine Neigung zu solchen medizinischen Grausamkeiten. Den sterbenden Bischof in den «Kronprätendenten» läßt er sagen:

«Ich bin nur noch ein knospender Leichnam, morgen werde ich Blume sein und übermorgen werdet Ihr wissen, wie ich dufte.»

Aus dem nämlichen Mißgeschmack sind die Berichte des rückenmarkskranken Doctor Rank aufgeschossen, der uns in «Nora» die wachsende Zerstörung seiner Wirbelsäule schildert. Ist es die Einsamkeit, die solche Krankheitskeime gebiert? Ibsen lebt in spröder Abgeschiedenheit, abseits vom Markte der Eitelkeiten. Von der lebendigen Anschauung des Theaters haben sich seine nach innen gekehrten Blicke entwöhnt. Erst die Berliner Aufführung der «Gespenster» hat den weltflüchtigen Mann bewogen, einmal in unmittelbaren Verkehr mit seinen Freunden einzutreten, die es an Zeichen gastfroher Theilnahme nicht fehlen lassen. Wenn ihm diese munteren Eindrücke die Freude am Lebendigen, die Lust an Helligkeit und Farbe wiedergeben und die kranken Säfte erfrischen könnten, die in seine letzten Dichtungen schmerzlich hineingewirkt wir würden selbst den unheimlichen Anlaß verschmerzen, der den Dichter diesmal in unsere Mitte geführt hat.

O. Bl.
Publisert 21. mars 2018 11:08 - Sist endret 21. mars 2018 11:09