Otto Brahm

Gespenster på Residenz-Theater i Berlin anmeldt av Otto Brahm i Frankfurter Zeitung i Frankfurt am Main 12. januar 1887 (Nr. 12. Erstes Morgenblatt. Einunddreissigster Jahrgang.).

Henrik Ibsens «Gespenster» in Berlin.

Berlin, 9. Januar.

«Es bleibt bestehen, daß das Werk in der kühnen Größe des Wurfs, in der Lebendigkeit seiner Charaktere und der Kunst seines Baues über die meisten neueren entscheidend hinauswächst. Wird kein deutsches Theater den Muth finden, es auf die Scene zu stellen?»

Vor drei Jahren war es, daß ich an dieser Stelle eine Anzeige der «Gespenster» mit solcher Frage beschloß. Drei Jahre! Wie viel schneller gelangen französische Sittendramen und deutsche Schwänke auf unsere Bühnen; wie viel schneller sind sie dargestellt und vergessen. Das Werk, das so lange Zeit einer Aufführung harren sollte, hat an frischem Interesse dadurch nicht verloren, sondern gewonnen, zum Zeichen seines tieferen Werthes; und unter den «Novitäten» der jüngsten Weihnachtszeit hat diese Nr. 1828 der Reclamschen Universalbibliothek, welche das Ibsensche Familiendrama enthält, obenan gestanden. Es ist zu Zeiten ganz vergriffen gewesen, immer neue Sendungen mußten sich von Leipzig nach Berlin durch Schneeverwehungen und Sturm den Weg bahnen, und glaubwürdig wird versichert, daß binnen Kurzem 5000 Exemplare des merkwürdigen Werkes abgesetzt sind: ein Erfolg, der auf diesem Gebiete ein völlig ungewohnter ist. Denn wer hat in unseren Tagen außerhalb der engeren literarischen Kreise die Neigung, ein Drama zu lesen? Sehen will man es und dieser Wunsch hat sich heute denn erfüllt.

Herr Anton Anno ist der muthige Mann gewesen, der jenes Wagniß unternommen hat und mit vollem Glück es bestand; ganz so wie der Dichter es geschrieben hat, ohne Milderungen und Abschwächungen, hat er das Werk vor das Publikum der Hauptstadt gestellt. Daß auch er nur in einer Separatvorstellung (wie die Augsburger und Meininger Bühne) das Drama vorgeführt hat, ist nicht nach seinem Willen geschehen, sondern nach Vorschrift einer höheren Macht: der Polizei; und es wird an Bemühungen nicht fehlen, die Einwilligung der Censur zu weiteren Aufführungen des Werkes zu erlangen.

Aber fast möchte man, in diesem ungewöhnlichen Falle, dieser nicht freiwilligen Veranstaltung einer Einzelvorstellung froh sein. Das Werk, um welches es sich handelt, weicht von unserer Bühnentradition so stark ab, es unterscheidet sich vor Allem so fundamental von den Sittendramen, welche sonst im Residenztheater heimisch sind, daß die Feierlichkeit, welche über dieser Aufführung lag, die gespannte Erwartung, mit welcher man, nach so ungewöhnlichen Vorbereitungen der Darstellung entgegensah, dem feineren und tieferen Verständniß des Kunstwerkes entscheidend zu Hilfe kam. Der Erfolg, um es mit einem Worte zu sagen, war überwältigend; ganz einmüthig nach dem ersten Akte, welcher die stärksten dramatischen Effekte bringt, und einen nicht endenden Beifall entfesselte, wie wir ihn in diesen Räumen noch nicht gehört hatten; bedingter und zögernder, aber doch noch voll und lebhaft nach dem zweiten und dritten Akte, welche die Bedenken gegen den Stoff des Dramas bei vielen aufriefen, aber zugleich die Bewunderung für den großartigen Aufbau des Ganzen, auf ihre Höhe brachten. Henrik Ibsen, stürmisch gerufen nach jedem Akte, mußte, ich kann nicht sagen wie viel Male, vor dem Publikum erscheinen, und auch der vortrefflichen Darstellung wurde ein reichlich Maß von Anerkennung durch ungezählte Hervorrufe zu Theil.

Ein Vorwurf war es zumeist, den man immer und immer wieder hören konnte, als die Hörer das Haus verließen: «Wie quälend!» Der Inhalt des Schauspiels allein, nicht seine Form ist es, was hier die Entscheidung bestimmte; aber kann man es wirklich künstlerisch urtheilen heißen, wenn nur das Thema einer Dichtung, nicht ihre poetische Behandlung den Maßstab hergibt?

Ich will hier ein ästhetisches Glaubensbekenntniß ablegen, wie das Stück es herausfordert, (und daß es dazu herausfordert, scheint mir grade einer seiner größten Vorzuge zu sein). In der ganzen weiten Welt, bei den Menschen und den Dingen, sehe ich nichts, unbedingt nichts, was einer künstlerischen Behandlung nicht könnte unterzogen werden: offen und frei liegt Alles da, nur zuzugreifen hat der Dichter, von keinem Schlagbaum der Theorie gehemmt. Nicht das Was entscheidet, sondern allein das Wie; und hier freilich liegen die schwierigsten Probleme verborgen und der einzelne Fall gibt nicht dem Nachahmer, aber dem auf eigenen Wegen furchtlos Wandelnden neue Räthsel auf. Die ästhetischen Gesetzgeber unserer Nation, Goethe und Schiller, haben über diese Fragen, prinzipiell gesehen, nicht anders gedacht; auch ihnen war die Beherrschung des Stoffes durch die Form oberstes Gesetz; und wenn sie praktisch zu anderer Kunstrichtung gedrängt wurden, wenn die idealistische Poesie der Weimarer Zeit und die realistische eines Ibsen sich zu widersprechen scheinen, so braucht uns dies nicht zu irren. Anders ist die Forderung unserer Tage an den Dichter, anders das Bedürfniß jener gewesenen Zeit; aber wenn die Entwickelung in aller Dichtung hierauf zielt, immer mehr Natur in die Kunst aufzunehmen, poetisches neues Land dem Leben abzugewinnen, gleich wie Faust Land abzwang dem Meere so ist kein neuerer Dramatiker kühner und großartiger nach vorwärts geschritten, als der Verfasser der «Gespenster». Und der lärmende Widerspruch, den sein gewaltiges Unternehmen erwecken wird, bei uns lauter wecken, als einst in der Heimath des Dichters, weil gerade auf unserer Bühne alles Neue und Ungewöhnliche so gern unterdrückt wird dieser Widerspruch kann unser Urtheil nicht erschüttern, eher befestigen: nicht anders wurden hundert Jahre vor uns die «Räuber» und «Kabale und Liebe» begrüßt.

Aber was ist denn nun endlich dies Neue, Entscheidende in dem Werke? Es kann nicht meine Absicht sein, eine Inhaltsangabe hier zu liefern (umsomehr als schon bei Erscheinen des Buches eine Analyse an dieser Stelle versucht wurde); um den Eindruck der Bühnendarstellung nur kann es sich handeln, und wie uns dieser nun entgegentrat mit überzeugender Kraft, das ist die unbedingte Wahrheit, die unbarmherzige, grelle Wahrheit wenn man will, in der Schilderung menschlicher Charaktere gewesen. Menschen stellt der Dichter vor uns hin, wirkliche und leibhaftige Menschen, in voller Figur gesehen, rundum und ganz; und gerade weil er es wagt, hinter diese Gestalten so unbedingt zurückzutreten, so neigen diejenigen, die nicht wissen, was das heißt: künstlerische Objektivität, stets von Neuem dazu, den Dichter und seine Menschen zu identifiziren. Was eine arme Frau in ihrem namenlosen Unglück herausstößt an freien Worten und extremen Ansichten, das stellt der Dichter so ruhig dar, wie die beschränkteren Anschauungen eines liebenswürdigen Pfarrers, und die verruchte Heuchelei eines Trunkenbolds; denn alle hat er im Leben beobachtet, alle dünken ihm gleich wahr. So ist die Welt, ruft er, hierher seht, ich zeige sie euch ganz wie ich sie sehe, und weil ich sie so sehe: schaut zu, was ihr damit macht, mein Reich ist hier zu Ende.

Indeß all dieses betrifft zumeist doch den Stoff des Stückes, und entscheiden soll erst seine Form. Wir haben es mit einem Drama zu thun und auf der Bühne gilt nur, was wirkt; was im Augenblick die Gemüther ergreift, aber sie festhält auch über den Moment hinaus und Stand hält der ruhiger gewordenen Erwägung. Und hier ist es, wo die ganze Größe des Werkes sich erweist. Ibsen hat es sich, wie absichtlich, schwer gemacht, um dann, über alle Hindernisse hinweg, den Triumph seiner Kunst zu gewinnen. Nicht allein, daß er in dem Inhalt seiner Dichtung ungebahnte Wege schreitet, auch in dessen Behandlung strebt er neuen Zielen zu. Neuen und doch auch alten Zielen der Poesie. Er liefert ein analytisches Drama, nach der Weise der Griechen: nur eine Katastrophe entwickelt sich vor uns, das Netz zieht sich zusammen, langsam, unentrinnbar über die Mutter und ihren armen Sohn, das die Verhältnisse und ernste Seelenschuld in vergangener Zeit geknüpft haben. Man denkt an den «König Oedipus» des Sophokles, in dem auch ein grausiger Stoff durch die künstlerische Behandlung eines Meisters bezwungen und in das Reich der Poesie gehoben ist. Nicht auf dem Geschehenden, auf der Enthüllung des Gewesenen liegt der Accent hier und dort; aber wie hat Ibsen es verstanden, Vergangenes gegenwärtig zu machen und Erzählung in Handlung umzusetzen abermals und abermals. Ein erschütterndes Seelendrama hat er geschaffen, dessen Wirkung lange nachhallen wird; und rührend ist, unendlich rührend die Gruppe der schmerzenreichen Mutter und des dahinsiechenden Sohnes, die dieses Werk beherrscht und uns, da er uns entläßt, bewegt im Tiefsten . . .

Nirgends empfindet man stärker die Unzulänglichkeit allgemeiner Kunsturtheile, als vor einer Dichtung von der Art dieser «Gespenster». Ich wollte, Akt für Akt und Scene für Scene könnte ich hier durchgehen, um alle Schönheiten des Werkes darzulegen und seinen innersten, quellenden Lebenskeim; und statt einen einfachen Bericht zu schreiben, wünschte ich zu einer ganzen Abhandlung das Wort zu haben. Dann erst könnte man die Fülle der Beziehungen und kunstvollen Verknüpfungen in der Dichtung, dieses Hin- und Herüber der Motive, in denen wohlverzahnt ein Glied eingreift ins andere, anzudeuten wagen; ich sage anzudeuten, denn immer neue dichterische Geheimnisse entdecken sich dem hingegebenen Betrachter. Ich habe das Stück oft gelesen, habe gestern die Generalprobe und heute die Aufführung gesehen, und jedes Mal sind mir andere tiefgreifende Beziehungen, lebenswahre Symbole voll Kraft und Anschauung aufgegangen; denn dies Werk, als ein echtes Kunstwerk, ist unerschöpflich wie das Leben, wie die Welt.

Aber den Eindruck Einer Scene doch versuche ich zu schildern. Sie liegt am Schluß des ersten Aktes und ihrem bezwingenden Eindruck hat Keiner sich entzogen. Pastor Manders und Frau Helene Alving sind allein, zu ernster Unterredung; und der Pastor, indem er die freien Ansichten der Jugendfreundin bekämpft, schleudert ihr in jener einfachen, knappen und doch so mächtigen Sprache Ibsens schwerwiegende Anklagen zu. Er nennt sie eine schuldbeladene Frau; zwiefach schuldbeladen als Gattin und als Mutter. Ihrem Gatten ist sie einst entflohen, weil sie das Glück an seiner Seite nicht fand, und nur schwer hat Manders, zu dem Neigung sie hinzog, in die eheliche Pflicht sie zurückgezwungen. Und ihren Sohn hat sie fortgeschickt, in die weite Welt, weil sie der Mutterpflicht müde war, und sie darum ist mitschuldig an den extremen Anschauungen, die er nun aus der Fremde zurückgebracht hat, dem Pastor zum tiefsten, ehrlichsten Entsetzen. Lautlos hört Helene diese Vorwürfe alle an und ihr Schweigen scheint ihnen Recht zu geben; aber mit einer plötzlichen Wendung sich erhebend, nimmt nun sie das Wort und in einer meisterhaft aufgebauten Erzählung, in der der tiefe ethische Zug dieser Dichtung und ihre künstlerische Größe zum ersten Mal völlig ans Licht tritt, widerlegt sie alles Punkt für Punkt, was mit so viel Anschein von Recht der Priester gesprochen. Um des Sohnes willen hat sie alles auf sich genommen, was diese Ehe in vielen schicksalsvollen Jahren über sie gebracht hat, sie hat den Namen des Gatten, der in Ausschweifungen versank, durch ihre Arbeit, ihren Geist zu Ehren gebracht, sie hat das Kind Alvings und einer Magd in ihr Haus geführt und zuletzt das Schwerste auf sich genommen: die Trennung vom Sohne, um das Lügenmärchen von seinem wohlthätigen, hochgepriesenen Vater zu beschützen vor seinem scharfen Kinderauge. Nun aber hat sie mit der Vergangenheit abgeschlossen, todt ist ihr Gatte, sein Vermögen, an dem sie nicht Theil haben will, ist einem Asyl überwiesen, das eben heute vollendet ist: «und von nun an,» ruft sie, «wird es für mich sein, als hätte der Verstorbene niemals in diesem Hause gelebt. Hier soll kein anderer sein, als mein Sohn und seine Mutter.» Da, als sie diese Sätze mit herausforderndem Stolze spricht da ertönen aus dem Nebenzimmer Worte, die sie schon einmal gehört, vor vielen, vielen Jahren, an eben dieser Stelle: damals sprach Alving sie und er warb um jene Magd, heute spricht sie Alvings Sohn zu Alvings Tochter. «Gespenster!» ruft die Mutter, ihrer selbst nicht mächlig, und mit der dämmernden Erkenntniß, daß Oswald Erbe des Vaters sein möchte in mehr als einem Sinne, schließt die unbeschreiblich großartige Scene ab. Wie schicksalsvoll nun das Erbtheil des Vaters in Wahrheit ist bei dem unglücklichen Sohne, und wie der übergewaltige Sinn der Mutter gestraft wird in tiefer Tragik, das macht den Inhalt des weiteren Stückes aus; aber wie kühn und wahr der Dichter auch in allem Folgenden gewesen ist, wie überraschend er sein Problem zu führen und zu lösen versteht die erschütternde Gewalt dieses Auftritts hat er nicht wieder erreicht. . . .

Ein Werk von so eigenartiger Prägung stellt den Schauspielern die lockendsten, aber auch die gefährlichsten Aufgaben. Ein falscher Ton kann dem ganzen Stück Gefahr bringen; es ist in erster Linie das Verdienst des Direktors Anno, daß alle Feinheiten der Dichtung erfaßt wurden und zu bühnenmäßigem Ausdruck gelangten. Aber auch den Darstellern gebührt für ihre unbedingte Hingabe an das Werk der lebhafteste Dank. Von den fünf Schauspielern, welche das Stück erfordert, haben Frau Frohn, die Wittwe Alving, Herr Reicher, der Pastor Manders, Frl. Schüler, die sinnenfrohe Tochter Alvings, die künstlerisch rundesten Leistungen gegeben. Alvings Sohn war Herr Wallner, dessen Rollenfach Aufgaben dieser Art ferner liegen, der aber in ernstem, erfolgreichem Mühen die Gestalt sich nahe zu bringen wußte; den teuflischen Trunkenbold hat Herr Würzburg zwar in etwas starkem Farbenauftrag, allein sehr wirksam gespielt. Den ernsteren Freunden der Kunst aber wird diese erste Berliner Darstellung der «Gespenster» unvergeßlich bleiben; möchte sie nicht die letzte gewesen sein!

Otto Brahm.
Publisert 21. mars 2018 11:11 - Sist endret 21. mars 2018 11:11