Paul von Bingo

Gengangere på Stadttheater Bern anmeldt av Paul von Bingo (under signaturen «–e–») i Berner Stadtblatt 28. oktober 1887.

Gespenster.

Charakterbild in 3 Akten von Henrik Ibsen aus dem Norwegischen von M. v. Borch.

 

–e–  Mit einer Spannung, wie selten betraten wir am Mittwoch abend das Theater, um der ersten öffentlichen Aufführung des Charakterbildes von Henrik Ibsen «Die Gespenster» beizuwohnen, eines Stückes, welches wohl ebenso viele Gegner, wie Freunde aufweisen dürfte, wenngleich beide unumwunden dasselbe als ein hervorragendes Geistesprodukt eines berufenen Dichters anerkennen werden. Was ist es wohl, warum die Zensur in Deutschland die öffentliche Aufführung dieses Charakterbildes verbot? Ist das Sujet unsittlich? Nein, denn dasselbe ist wahr, und die Wahrheit als solche nie unsittlich. Die Sprache ist edel, selbst der prüdeste Kritiker dürfte keinen Anstand an derselben nehmen. Die Handlung und die dadurch bedingte Situation sind durchaus nicht frivol, wie die ganzen Vorgänge überhaupt sehr ernste Bilder vorführen. Und trotz alledem wurde in Deutschland die öffentliche Aufführung verboten?! Der Grund hierfür liegt in dem krassen Realismus, mit welchem Ibsen die philosophische These in dem Stücke vertritt: Die durch Ausschweifung und Lüste begangenen Sünden der Väter werden an den schuldlosen Kindern heimgesucht, ohne daß die erbarmende Liebe Gottes rettend eingreift. Ein junges, reiches Fräulein wird auf Veranlassung ihrer Verwandten ohne Neigung an einen jungen Dragoneroffizier verheiratet, welcher eine bewegte Vergangenheit besitzt. Helene Alving bemerkt mit Entsetzen, daß sie die Beute eines Wollüstlings geworden, der sein wüstes Leben unbeirrt fortsetzt, und flüchtet nach einjähriger Ehe zu dem Pastor Manders, einem Jugendfreund ihres Mannes, für welchen sie selbst heimlich in Liebe erglüht und verlangt die Trennung ihrer unglückseligen Ehe. Pastor Manders, welcher Helene ebenfalls liebt, gewinnt den schweren Sieg über sein eigenes Herz, und führt Helene Alving, welche den wahren Grund ihrer Flucht ihm nicht verraten, mit ernster Ueberredung zu ihrer Pflicht zurück. Scheinbar mit ihrem Gatten ausgesöhnt, wird sie Zeuge, daß er sogar die Ehre seines eigenen Hauses mißachtet und ein intimes Verhältnis mit ihrer Kammerzofe anknüpft. Ihre unaufhörliche Sorge ist, der Welt ihr Unglück zu verbergen und den einzigen Sohn Oswald von dem Vater fern zu halten.

 

Aus diesem Grunde schickt sie denselben zur Erziehung in das Ausland. Die Zofe wird von ihr mit einer Geldsumme entschädigt und sofort entlassen; dieselbe heiratet den Tischler Engstrand, welcher das später geborene Kind «Regine» als das seine bezeichnet. Dieses Kind, die Stiefschwester Oswalds nimmt hierauf Helene Alving zu sich in dienender Stellung. Jahre vergehen; der Gatte Helenes stirbt; der inzwischen erwachsene Sohn Oswald, welcher ein Maler geworden, ist nach Hause zurückgekehrt die Handlung des Stückes beginnt und führt in ihrem Verlauf mit einem geradezu Entsetzen erregenden Realismus vor den Augen der Zuschauer die erschreckliche Wahrheit der oben angeführten These durch: daß die Sünden der Väter an den Kindern heimgesucht werden. Die Angst davor sind die Gespenster, welche Helene Alving jahrelang nicht zur Ruhe kommen ließen. Ihr Sohn Oswald, selbst sittlich rein, büßt die Laster seines Vaters, indem ihn die angeborene Gehirnerweichung zum Wahnsinn treibt, nachdem er in Liebe zu seiner Stiefschwester Regine erglüht ist. Diese letztere geht sittlich zu Grunde, indem sie die laxe Moral ihres Vaters erbte. Kurz alles, was mit der Sünde nur in irgend einer Beziehung stand ist unrettbar dem Verderben geweiht. Mit einer unaufgelösten Dissonanz, mit einem dem Publikum zur Lösung überlassenen Rätsel endet das markerschütternde Lebensbild. Als Oswald den hereinbrechenden Wahnsinn verspürt, verlangt er als ächte Liebestat von seiner Mutter, daß ihre Hand ihm das erlösende Morphiumgift darreichen soll. Wird sie es tun? Der Vorhang fällt und überläßt jedem die Beantwortung dieser Frage selbst.

Ist der Realismus in seiner krassesten Gestalt, selbst wenn er eine unumstößliche Wahrheit predigen sollte, wirklich auf der Bühne berechtigt? Wir glauben nicht. Die Aufgabe des Schauspiels ist nicht Schauder und Entsetzen zu verbreiten, ohne irgend einen sittlich erhebenden Trost zu bieten. Nicht im Herzen erschüttert, in tiefster Seele ergriffen, von der Wahrheit bewegt, nein durchschauert, entsetzt mit Grausen sieht der Zuschauer die Handlung in ihren einzelnen Phasen vor sich abspielen, ohne zu der Philosophie des Skeptizismus bekehrt zu werden. Wohl mag den Lüstling, wenn er in solcher Weise ein Spiegelbild seines Lebens erhält, das Herz im Leib erbeben, aber da eine Rettung ihm nicht winkt was würde die Umkehr nützen also weiter den Freudenbecher der Lust geleert! Das ist ungefähr die Moral, die er mit nach Hause nimmt, «vogue la galère!« oder aber ihn packt unwiderstehlich die Verzweiflung, weil kein versöhnendes Element ihn aufrichtet. Wir sehen die poetische Gerechtigkeit nicht einmal zu ihrem Rechte kommen; der heuchlerische Schurke, Tischler Engstrand, triumphirt und selbst der an allem unschuldige Pastor Manders verfällt ihm als Opfer. Alles, alles vernichtet

Es war ein Wagnis des Hrn. Direktor E. Vaupel, an die öffentliche Aufführung heranzutreten. Die Darstellung der einzelnen Charaktere in den Hauptrollen war vortrefflich, und darf nach dieser Richtung die Vorstellung am Mittwoch als ein Ehrenabend unseres Schauspielerpersonals bezeichnet werden. Der Beifall galt nun auch mehr der Darstellung als der Dichtung.

Frl. Botz «Helene Alving» hatte sich psychologisch in ihre Aufgabe vertieft und wußte die heiklen Stellen mit feinem Takte zum Ausdruck zu bringen. Als ihr Sohn «Oswald» zeigte Hr. Schwab, daß er auf die Charakterausarbeitung große Mühe verwandt hatte. In seiner Art «mustergültig» (wir pflegen mit diesem Ausdruck nicht so leicht bei der Hand zu sein) gab Herr Kempf den «Pastor Manders». Herr Kempf ist, wie wir hören, erst im Anfang seiner Künstlerlaufbahn; nach seiner Leistung am Mittwoch zu urteilen, glauben wir sagen zu dürfen, er hat recht getan, dieselbe zu erwählen. Der «Tischler Engstrand» fand in Herrn Turrian einen Vertreter, welcher seiner Aufgabe vollkommen gewachsen war. Frl. Glitz spielte die, namentlich im letzten Akte unsympathische «Regine» sehr gewandt.

Eigenartig erdacht ist die Dichtung von Henrik Ibsen, genial komponirt und durchgeführt. Ob aber die «Gespenster» oftmals auf unserer Bühne ihr Wesen treiben werden lassen wir dahingestellt. Eine gesunde Kost für jedermann als Theaterstück ist die Dichtung nach unserem Ermessen nicht.

Publisert 21. mars 2018 11:16 - Sist endret 4. apr. 2018 13:31