Paul Schlenther

Gespenster på Residenz-Theater Berlin anmeldt av Paul Schlenther i Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen (Vossische Zeitung) 10. januar 1887.

Theater, Musik, Konzerte rc.

Residenz-Theater.

Sonntag, 9. Januar 1887, 12 Uhr Mittags, zum wohlthätigen Zwecke: «Gespenster». Ein Familien-Drama in drei Aufzügen von Henrik Ibsen. Aus dem Norwegischen von M. von Borch. Regie: Anton Anno.

Das Haus war ausverkauft und in allen Theilen von einem vorwiegend literarisch-künstlerischen Publikum besetzt. Nach jedem der drei Akte, am elementarsten nach dem ersten, ging stürmischer Beifall durch den Saal. Henrik Ibsen wurde immer von Neuem auf die Bühne gerufen und erschien im Kreise der fünf Darsteller, welche für seine Dichtung ihre beste Kraft eingesetzt haben und an der erschütternden Wirkung, die das Drama hervorrief, vollen Antheil nahmen (Herr Reicher, Frau Frohn, Frl. Schüle, Herr Wallner, Herr Würzburg). An Versuchen, eine abfällige Meinung über das Stück zum Ausdruck zu bringen, fehlte es nach den beiden letzten Aufzügen nicht, aber jeder Widerspruch wurde im Keime erstickt. Bei den Gesprächen, welche sich gestern an die merkwürdige Vorstellung allerorten geknüpft haben mögen, werden Verdikte lauter geworden sein; auch in den öffentlichen Urtheilen dürfte ein Zwiespalt der Ansichten hervortreten. Niemand jedoch, der ehrlich und ohne Befangenheit urtheilt, kann leugnen, daß Ibsens Drama zu den wenigen in heutiger Zeit verfaßten Stücken gehört, welche, wie man auch zu ihnen stehen und wie man sie verstehen mag, der Rede werth sind. Als vor mehreren Jahren in demselben Residenztheater die congeniale Vorgängerin der «Gespenster», Ibsens «Nora» erschien, fühlte sich Friedrich Spielhagen, ohne dem Drama zu huldigen, angeregt, einen Essay darüber zu schreiben. Ueber «Gespenster» ließe sich ein Buch schreiben.

Schade, daß kein Lessing mehr da ist, der in der Weise der Hamburgischen Dramaturgie ein solches Stück in ästhetischer Auseinandersetzung bis auf den Grund ausschöpfte. Denn von Ibsen werden die Probleme der Zeit nicht an ihrer Oberfläche gestreift und durch geistreiche Raisonnements umtändelt, sondern dieser Dichter rückt ihnen schreckhaft nahe auf den Leib und legt an die wundesten Stellen den Finger. So tief er aber in den Stoff dringt, so klar ist seine Form. Undeutlich bleibt dem urtheilsfähigen Zuschauer auch beim ersten Sehen (und «Gespenster» müßten oft gesehen werden) nichts, und doch hat jeder Satz, der ausgesprochen wird, innerhalb der Oekonomie des Dramas seinen tiefern Sinn, dessen Durchdringen dem Kunstwerk immer neue Züge abgewinnt und immer näher an den Gedankengang des Dichters heranführt. Den einzigen Vorwurf, den wir gegen die gestrige Darstellung erheben möchten, ist der, daß man das Dichterwort nicht immer mit der wünschenswerthen Klarheit zum Ausdruck brachte.

Ich versuche es nun nicht, auf begrenztem Raum für das Buch, welches ich über «Gespenster» verfaßt wissen möchte, Ersatz zu bieten. Ich muß mich mit einer dürftigen Analyse begnügen.

Vor dreißig Jahren wuchs in der Obhut seiner verwittweten Mutter, der auch noch zwei unverheirathete Tanten bei der Erziehung halfen, ein junges Mädchen heran. Helene war arm und schön. Ihr näherten sich zwei Jünglinge, ein herzensfrommer Theolog und ein sinnenfroher Offizier. Jenem gehörte ihre Neigung, dieser mißfiel ihr nicht; da die Mutter, auch die Tanten gut zuredeten, beging sie eine Sünde gegen ihr eigenes Herz und heirathete den reichen Lieutenant Alving. Noch bevor sie einen Knaben zur Welt bringt, hat sie erkannt, daß ihr Gatte schlimmer ist als sein Ruf. Er ist nicht mehr ein Lebemann, sondern ein Wüstling. Der jungen Frau ekelt es. In ihrer Verzweiflung macht sie sich heimlich auf und flüchtet zu dem, den ihre Seele liebte, der sie still verehrte, aber nie begehrte. Pastor Manders bleibt in der versuchungsschweren Stunde seiner würdig. Statt das schutzflehende Weib liebend zu behalten, führt er sie liebevoll zurück zu ihrer Pflicht. Im Sinne der allgemeinen Moral glaubt er damit ein gutes, Gott und den Menschen wohlgefälliges Werk gethan zu haben. Auch Helene wird davon überzeugt, daß dem Rechte ihres Herzens und ihres Glückes gebieterisch jene Pflicht gegenüber steht, welche sie am Altar auf sich genommen hat. Sie fühlt sich an den Gatten gebunden; ihren Abscheu gewaltsam überwindend kehrt sie in das Haus Alvings zurück und gebiert ihm einen Sohn. Alving wird durch den Fluchtversuch der Frau nicht zur Besinnung gebracht; er fröhnt immer gemeineren Lüsten. Aber auch mit Helenen geht es auf der Bahn, die sie einmal betreten hat, unaufhaltsam vorwärts. Noch immer sieht sie sich im Dienst der Pflicht. Sie will dem heranwachsenden Knaben die Ehrfurcht vor seinem Vater nicht rauben. Zu diesem Zweck spinnt sie ein ganzes Netz frommer Lügen. Sie häuft Reichthümer, während ihr Mann, dem das Verdienst zuerkannt wird, in Wahrheit faullenzt und schwelgt. Damit die Welt möglichst wenig von seinem Wandel erfahre, sucht sie ihn möglichst viel ans Haus zu fesseln und macht sich mit innerem Grauen zur Genossin seiner wüsten Nächte. Den Knaben, ihr einziges Glück, hat sie früh von sich gegeben: er soll seinen Vater ehren. So vergehen Jahre. Alvings Reichthum, Alvings Ansehen wuchs durch die heiße Arbeit der heldenmüthigen Frau. Aus dem Lieutenant ist längst ein Kammerherr geworden. Aber mit der Kammerherrnwürde kommt ihm nicht die Manneswürde. Eines Tages ertappt ihn seine Frau, wie er im Blumenzimmer ihr eigenes Dienstmädchen zu verführen sucht. Die Liebschaft kommt auch wirklich zu Stande und hat Folgen. Die Person wird fortgeschickt und verhüllt ihren Fall durch rasche Verheirathung mit einem schlechten Subjekt. Sie ist schon Frau Tischler Engstrand, als sie einer Tochter das Leben giebt. Nachdem sie, ihre Schuld büßend, durch den rohen Mann zu Tode gepeinigt ist, hat Helene Alving Seelengröße genug, das natürliche Kind ihres Mannes nicht dem verwahrlosten Scheinvater zu überlassen. Sie nimmt Regine in ihr Haus, und während der rechtmäßige Sohn auswärts heranwächst, erzieht sie den Wildling fast wie ihre eigene Tochter.

Allmählich beginnt Alving unter dem wüsten Ansturm seines Leidenschaften siech zu werden. Nach fast zwanzigjähriger Ehe stirbt er und die Welt bedauert in ihm einen Ehrenmann. Helenen ist ihr frommer Betrug ganz gelungen. Sie will noch ein Letztes thun. Alles was einst Lieutenant Alving an Vermögen besaß, was ihn in den Augen der Tanten und der Mutter zu einer guten Partie machte, will sie in Geldeswerth ausdrücken. Und für diese Summen will sie eine milde Stiftung gründen, ein Asyl, das den Namen ihres verstorbenen Mannes verewigen soll. Der wahre Grund zu diesem Entschluß ist ein doppelter: in ihrem Sohne soll die Ehrfurcht vor dem Vater unerschüttert bleiben; so lange er lebt soll man ihm mit dem Asyl den Namen des Vaters preisen; dann aber soll er alles, was er einst an irdischen Glücksgütern erben wird, nur ihr verdanken, ihrem rastlosen Fleiß, ihrem harten Kampf, dem ganzen Opfer ihres Lebens. Nichts soll er vom ruchlosen Vater erben!

Das Asyl steht nun unter Dach und Fach. Morgen soll es geweiht werden. Der junge Oswald Alving ist aus Paris zur scheinfrommen Feier in die Heimath zurückgekehrt. Auch Pastor Manders, der seit jener Stunde der Versuchung sich lange Jahre vom Hause Alving fern gehalten hat, ist im Dorfe eingetroffen, um den kirchlichen Theil der Feier zu leiten und das neue Asyl unter seine geistliche Hut zu nehmen. Regine ist nach wie vor im Hause, nicht eben Tochter, nicht eben Magd. Endlich ist auch noch ihr vermeintlicher Vater, der Tischler Engstrand, in der Nähe. Er hat die Tischlerarbeiten für das Asyl besorgt.

Zwischen diesen vier Personen und Frau Helene Alving, welche als Heldin im Mittelpunkte bleibt, spielt sich das eigentliche Drama ab, dessen Vorfabel sich hier wie eine Novelle erzählen ließ. Schon gegen Ibsens «Nora» hat Spielhagen den Vorwurf erhoben, das Drama sei im Kerne epischer Natur und stelle blos den Wendepunkt eines gut erfundenen Romans dar. «Gespenster» zum wenigsten möchte ich gegen diesen Tadel vertheidigen. Zwar ist die Vorfabel lang und wichtig, die Charaktere sind fertig, bevor das Stück beginnt. Dieses bringt nicht ihre fortschreitende Entwickelung, sondern nur ihre allmähliche Entfaltung.

Der Dichter geht ähnlich, wie Kleist im «Zerbrochenen Krug» analytisch vor. Gespensterhafte Schatten wirft eine lange Vergangenheit auf die Vorgänge eines einzigen Sonnenlaufs. Aus dem Zimmer, in welchem von Mittag bis zum nächsten Morgen alles sich zuträgt, blickt man durch ein breites Gartenfenster auf das Hochgebirge der norwegischen Küste. Aber es liegt grau verhüllt in trübem Nebel und erst zuletzt entschleiert die aufgehende Sonne Gipfel auf Gipfel, bis es mit seinen schimmernden Schneehäuptern vor uns aufragt. So liegen auch von Anfang an über den Geschehnissen im Stück dichte Schleier, und mit wunderbar feiner Künstlerhand nimmt der Dichter Schleier auf Schleier fort. Alle Vorbedingungen des tragischen Endes gehören vergangener Zeit an. Es wird erzählt, was geschah. Aber nichts wird, wie es bei anderen Autoren häufigst der Fall ist, um des lieben Publikums willen berichtet. Was für die Zuschauer neu, überraschend, überwältigend ist, überrascht und überwältigt auch eine der fünf handelnden Personen. Pastor Manders erfährt im ersten Akt, daß er Helenen durch jene fromme und opferwillige Zurückführung zur ehelichen Pflicht einem Unwürdigen auslieferte. Helene erfährt im zweiten Akt, daß sie ihren Sohn zwar vor dem materiellen Erbe seines Vaters schützen konnte, aber nicht vor einem allertraurigsten Erbtheil, welches er im Blute trägt. Regine erfährt im dritten Akt, daß sie eines vornehmen Mannes natürliche Tochter ist und die Schwester Oswalds, mit dessen Verliebtheit ihr kalter Anspruch auf Glück und Glanz thöricht-schlau gerechnet hatte. Endlich und damit schließt das Stück erkennt Frau Alving, daß ihr Sohn ein unrettbares Opfer der physischen Erbsünde ist. In steter Steigerung, verursacht durch Affekte aller Art, durch die Heimkehr, durch sinnliche Erregung, durch das furchtbare Geständniß, welches er der Mutter macht, durch die Aufregungen und Anstrengungen, bei einer Feuersbrunst, und endlich durch die Einsicht, daß die Geliebte seine Schwester und sein verehrter Vater der Urheber seines Geschicks ist, kommt plötzlich die angeerbte Krankheit zum Ausbruch, welche dieses Geschick bildet.

Innerhalb des Stückes reiht sich Erfahrung an Erfahrung, ihnen verdankt das Stück seine dramatische Spannkraft. Wie König Oedipus bei Sophokles erst auftritt, nachdem er längst seinen Vater getödtet und seine Mutter zum Weib genommen hat, so erscheint erst Frau Alving, nachdem sie längst ihren Mann begraben und ihren Sohn hat groß werden sehen. Und wie die Helden der antiken Tragödie gegen das Schicksal vergeblich ankämpfen, so kämpft Frau Alving vergeblich gegen die Macht der sozialen Verhältnisse. So sehr aber der Dichter von der Unfreiheit des Willens ausgeht, so sehr er den Satz, daß Jeder seines Glückes Schmied ist, einschränkt, so führt er doch seine Heldin nicht ohne deren eigene Verschuldung in ihr Unglück. Er fragt sie: warum gabest Du nach und ließest Dich gegen die Stimme Deiner Brust zu dem verleiten, was kurzsichtige Nüchternheit als gute Versorgung ansieht? Als Du aus Gründen vernunftmäßiger Ueberlegung dem Geliebten den Courmacher vorzogst, log Dein Herz und Du beludest es mit einer Schuld. Die eine Schuld gebar die zweite. Du überhörtest zum zweiten Mal die Stimme Deiner Brust und folgtest dem Gebot eines allgemeinen Pflichtbegriffs. Du durftest niemals wieder zurückkehren zu dem Manne, den Du ein Recht hattest zu verabscheuen. Es war eine Lüge, daß Du noch länger sein Weib bliebst und ihm Gattenrechte gabst. Eine gesetzmäßige Ehe, die nicht auf gegenseitiger Achtung und Liebe ruht, ist unkeusch und unheiliger, als eine wilde Ehe, die gegen die Macht der Lebensumstände Liebe und Achtung geschlossen haben.

Mit erbarmungsloser Strenge zeigt der Dichter, wie sich aus der Ehelüge Verderben auf Verderben häuft. Dieser Ehe entstammt ein Mensch, der niemals das Licht der Sonne hätte sehen dürfen. Trotz glänzenden Gaben brachte er vom Vater her den Keim der Verwesung mit sich. Er war dem Tode verfallen, bevor er zu leben begann. Aus seinem eigenen Munde muß die Mutter den Vorwurf hören, daß sie ihn geboren hat. Niemand aber sieht klarer in die Verwickelung ihrer Schuld und ihres Schicksals hinein, als diese Mutter selbst. Und weil Schuld und Schicksal innerhalb der gesetzlichen Ordnung, wie sie durch Ehe, Hauswesen, bürgerliche Pflicht bedingt ist, ihr entstand, wirft sie in einem echt tragischen Zuviel Alles über den Haufen, was mit Gesetz und Ordnung zusammenhängt. Weil es sich an ihr rächt, daß sie den nicht nahm, den sie liebte, giebt sie sich einen Augenblick dem frevelhaften Gedanken hin, daß selbst Stiefgeschwister, wenn sie einander lieben, sich verbinden dürfen. Dasselbe Schicksal, welches einst die zarte Kriemhild zur männermordenden Rächerin umschuf, legt der tapfern, klugen und guten Haushalterin Helene Alving nihilistische Gedanken nahe, Gedanken, welche man mit großem Unrecht dem Dichter selbst unterschieben würde.

Man nennt das Stück um seiner düstern Farbe willen pessimistisch. Wie falsch! Zwar ist das Ende jammervoll, denn die Mutter wird ihr Kind, das sie zu Unrecht gebar, mit eigener Hand tödten, um es von der Last seines verlorenen Daseins zu erlösen. Zwar hängt dieses Menschenschicksal aufs Innigste zusammen mit den allgemeinen Zuständen der Welt, die der Dichter nicht von ihrer besten Seite zeigt. Aber es wird deutlich ausgesprochen, daß es sich hier um Zustände einer bestimmten Welt handelt, wie sie Ibsen in den Verhältnissen seiner norwegischen Heimath durchschaut hat, in Verhältnissen, die ihn selbst ins Ausland trieben. Und nun höre man, was vom Ausland Oswald Alving erzählt. Er schildert ein Paradies, wie es sonniger und unschuldiger der optimistischste unserer deutschen Poeten, Paul Heyse, in seinem eigenen «Paradiese» nicht ausersonnen hat. Und nirgends anders als in Paris hat Oswald dieses Arkadien gefunden, «das schöne, das herrliche Freiheitsleben». Wer diese Stelle im Drama nicht geflissentlich übersieht (und wir wollen sie ja nicht übersehen) muß sich an die Schillerschen Karl Moor und Noller und Kosinski und an das freie Leben, das sie führen, erinnern. Viele, die in Paris waren, und denen Ibsens Gespenster zu düster sind, werden an die Existenz einer so hellen Welt, und an der naiven Lebensfreude, die darinnen herrschen soll, gar nicht glauben, sie werden vielleicht über eine solche Träumerei frivol witzeln. Glaubt Ibsen selbst daran? Er glaubt, wenn nicht an ihre Existenz, so doch jedenfalls an die Möglichkeit dieser Existenz. Aber das ist das Zeichen des Optimisten, der desto greller das Weltelend beleuchtet, je fester er an die Möglichkeit des Guten glaubt. Das ist es, was Schopenhauer und seinen dichtenden Anhang von unserm norwegischen Dramatiker trennt. Der Beweis dafür ist nirgends klarer als in «Gespenstern». Dieselbe Frau Alving, welche an ihrem Mann das Gräßlichste und Ekelste erlebte, welche durch ihr Schicksal über den Weg der wahren und höhern Einsicht hinaus zu frevelnden Gedanken geführt wird sobald sie vom Dasein eines schöneren und freieren Lebens hört, sieht sie plötzlich «den Zusammenhang» und erkennt, daß selbst ihr verabscheuter Gatte in einer schöneren und freieren Lebenssphäre ein guter Mensch geblieben wäre; und nach edler Frauen Art schiebt sie alle Schuld auf sich selbst: sie klagt sich an, daß sie ihm dieses Leben nicht geschaffen hat.

Aber auch die Welt, in der Alving unterging, zeugt gute Menschen. Pastor Manders ist der lebendige Beweis dafür. Er geht nur in alten Geleisen und erschrickt vor Allem, was ihm von Jugend auf fremd war. Aber er ist darin nicht verkommen, er ist nur ein großes Kind geblieben, eines von den Kindern, denen im rechten Sinne des Heilands das Evangelium gepredigt wird. Schlimm genug, daß ein solcher Mensch, wie man zu sagen pflegt, in Teufels Küche kommen kann; aber ganz unverbesserlich kann es in der Welt nicht sein, in der solche Menschen groß werden. Wenn er von Regine und Engstrand schließlich umgarnt wird, so büßt auch er die Schuld, daß er einen starren Pflichtbegriff über die lebendige Liebe stellte.

Viele hat dieses und noch mehr anderes im Stück peinlich berührt: sowohl anderwärts als auch trotz der ungemein zarten und vornehmen Darstellung im Residenztheater. Wie kann das sein? Wenn dem Lügner die Maske plötzlich fortgerissen wird und er vor dem Antlitz der Wahrheit steht, so mag es ihn medusenhaft entsetzen. Den aber, der nur mittelbar durch das Gefühl betheiligt dabei steht, wird der Anblick ergreifen und erheben, denn es siegt die Wahrheit.

Seit wann ist es verboten, die Entlarvung der Lüge und den Sieg der Wahrheit im tragischen Drama darzustellen? Hier freilich wird Lüge genannt, was Andere euphemistisch Illusionen und Ideale nennen. Henrik Ibsen kämpft Zeit seines Lebens gegen Ideale, die so falsch sind, wie das Ideal, das Oswald in seinem Vater zu verehren gewöhnt wurde. Und diese falschen Ideale sind es, welche Frau Alving Gespenster nennt. Henrik Ibsen hat den Kampf gegen solchen Gespensterglauben in die Literatur eingeführt. Peinlich kann diese That nur der Lüge und dem Aberglauben selbst sein.

Aber peinlich ist es Vielen, daß drei Akte lang auf der Bühne ein Mensch umgeht, selbst wie ein Gespenst, ohne eigenes Verschulden siechend und fast thierisch verendend. Oswald Alving ist allerdings schuldlos, aber was verschuldete Cordelia im Lear? Was verschulden die Söhne Eduards? Ein gewaltiges Schicksal wäre nimmer gewaltig, wenn es nur Ein schuldiges Haupt träfe. Wenn eine Eiche stürzt, so knickt und bricht es im Unterholz.

P. S.*)



*) Wir haben unserem Herrn Referenten zur Beurtheilung des Ibsenschen Stückes, dessen Aufführung als das sensationellste Ereigniß dieser Theatersaison zu betrachten ist, gern das Wort gegeben, können uns seinem Urtheile jedoch nicht anschließen. In philosophischen Abhandlungen mag man die schwierigsten ethischen, sozialen und physiologischen Probleme lösen; für die Kunst, so verschieden ihre Richtungen sind, bleibt ein Gesetz unumstößlich: ein Kunstwerk soll uns Genuß, Freude, Erhebung bereiten, nicht Entsetzen, Qual und, was noch schlimmer ist, hoffnungslose Verzweiflung auch dann nicht, wenn, was wir dem Ibsenschen Stücke bestreiten, die Handlung auf Wahrheit beruht. Mit solchen Mitteln soziale und ethische Probleme lösen zu wollen, ist eine Verirrung der Kunst, selbst wenn eine so mächtige dramatische Schöpfungskraft ihnen Gestalt giebt, wie die Ibsens.
Red.
Publisert 21. mars 2018 10:51 - Sist endret 21. mars 2018 10:52