Fritz Mauthner

John Gabriel Borkman ved Deutsches Theater i Berlin anmeldt av Fritz Mauthner i morgen- og aftenutgaven av Berliner Tageblatt 30. januar 1897.
[Morgenausgabe s. 2.]

Feuilleton.

fm. «John Gabriel Borkman», das neue Schauspiel von Henrik Ibsen, wurde gestern auch in Berlin aufgeführt im Deutschen Theater. Nach dem gewaltigen zweiten Akte konnte Direktor Brahm für lauten Beifall im Namen des Dichters danken, der sein Christiania um der Berliner Vorstellung willen nicht verlassen hatte; nach dem vierten und letzten Akte trat Brahm abermals vor und versprach, dem Dichter von dem großen Erfolge Nachricht zu geben. Ob wohl dieses Telegramm den Eindruck des Abends getreulich wiedergeben wird? Ob das gestern wirklich ein großer Erfolg war? Die unfreien Bewunderer Ibsens werden es behaupten. Ihre Gegner werden diesmal erst recht nicht mitgehen wollen und werden sich darauf berufen, daß es im dritten Akte einen Augenblick gab die lustige Wittwe geht mit dem Studenten durch und nimmt ein blutjunges Mädel als «Reserve» mit, für die Zeit, da der Jüngling sich nach Abwechslung sehnen werde , wo das Publikum sich empören zu wollen schien, daß ferner am Schlusse des Stücks aus einem energischen Beifall heraus doch einige leise Opposition herauszuhören war. Wäre der Erfolg bis zum Ende gleich stark geblieben, die paar Zischer hätten sich nicht hervorgewagt.

Die freie Bewunderung Ibsens muß dem Deutschen Theater dankbar sein für die rasche und dennoch liebevolle Einstudirung des bedeutenden Werkes, das auf der Bühne doch noch größere Schönheiten enthüllt als im Buche. Allein es ist kaum geschaffen, breite Zuschauermengen zu erobern. Sind auch die einzelnen Gestalten wieder greifbarer und lebendiger als in Ibsens letzten Dramen, so ist Handlung und Vorgeschichte dafür noch motivenreicher, und das Wichtigste, die Einheit der Stimmung, ist darum noch schwieriger festzuhalten als sonst. Dieselben unsterblichen Götter, welche den Schweiß vor die Tugend setzten, haben auch vor den Ibsengenuß die Mühe des Grübelns gesetzt. Dadurch wird die künstlerische Freude an den tiefsinnigsten Dramen Ibsens zu einer ernsthaften Arbeit, der sich nur Kenner und Liebhaber unterziehen mögen. Diese Arbeit wird zur reinsten und geistigsten Kunstempfindung, so oft das große Weltbild, welches Ibsen in seiner Seele trägt, sich langsam aus den Kämpfen und Reden seiner Menschen offenbart wie z. B. in der «Wildente». Auf solcher Höhe scheint mir «John Gabriel Borkman» nicht zu stehen; Mephistopheles Ibsen leiht seine eigene Ironie an entscheidenden Stellen den handelnden Personen und verwirrt dadurch gerade die aufmerksamsten Zuschauer. Von der Zahl solcher Besucher, denen das Denken im Theater und das Ueberdenken in der Stille lieb ist, wird es abhängen, ob sich «John Gabriel Borkman» auf dem Repertoir halten wird oder nicht.

Auf keiner Bühne Berlins hätte das Stück besser aufgeführt werden können als am Deutschen Theater; hier aber fehlte, wie vielleicht dem Drama selbst, die Einheit des Tons, der nicht einmal von den Herren Nissen und Rittner durchaus festgehalten wurde. Glänzende Momente hatte Fräulein Lehmann. Im Einzelnen läßt sich die Darstellung nicht beurtheilen, ohne daß sie mit der dichterischen Zeichnung der Charaktere verglichen wird. Was noch geschehen soll.

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[Abendausgabe s. 1f.]

John Gabriel Borkman.

Schauspiel in vier Aufzügen von Henrik Ibsen.
(Deutsches Theater.)

[Nachdruck verboten.]
Wieder ist ein neues Drama des alten nordischen Mephistopheles, der aber wie Faust auf den Namen Heinrich getauft ist, an uns vorübergezogen, wieder hat er uns mit seinem Zauber gezwungen, die Welt mit seinen Augen zu sehen, wieder liegt ein Stück der Schöpfung in Trümmer. «Weh! Weh! Du hast sie zerstört, die schöne Welt, mit mächtiger Faust; sie stürzt, sie zerfällt! Ein Halbgott hat sie zerschlagen! Wir tragen die Trümmer ins Nichts hinüber und klagen über die verlorene Schöne.» So ruft wohl auch heute ein Chor erschreckter Geister. Wir Anderen, die wir nicht so leicht erschrecken und keine Geister sind, die wir diesem Henrik Ibsen seit zwanzig Jahren in freier Bewunderung gegenüber stehen, freuen uns seines Schaffens. Henrik Ibsen ist einer der mächtigsten Männer der Gegenwart; ihm ist es gelungen, was über Menschenkraft zu gehen schien: die tiefsten und wildesten Geisteskämpfe unserer Zeit in menschlichen Gestalten zu verkörpern, die zersetzende Kritik und Negation der alten Weltanschauung in farbigen Bildern auf die Bühne zu bringen. Er wird nicht so leicht vergessen werden können, weil seinen Ideen die Zukunft gehört.

Wenn Ibsen aber fast in allen seinen Dramen eine letzte Sehnsucht unerfüllt läßt, so muß es doch wohl einen Mangel geben in seiner großen Dichternatur. Er hat in seiner kraftvollsten Zeit einzelne Frauenporträts erfunden, die lebendig aus dem Rahmen herauszutreten scheinen. Doch seine meisten Menschen besitzen dieses blühende Leben nicht. Je vertrauter wir mit ihnen werden, desto ängstlicher fragen wir uns, ob die Kälte sie nicht getödtet habe. Wir wollen ihre Hände fassen, und wir begegnen einer Eishand. Wir möchten sie bei den Schultern packen und rütteln und schütteln, bis ein menschliches Herz aus ihnen aufschreit, ein einfaches Herz, das nicht gegrübelt hat. Das ist es, was die mächtigen Anregungen Ibsens von reinen Dichtungen unterscheidet. Ihm konnte ein Gretchen niemals gelingen, weil er niemals sein Denken vergessen konnte. Jetzt stehen wir als Schüler vor ihm und sehen nicht, daß in Faustens Talar Mephisto steckt.

Die Leser erinnern sich der Fabel von «John Gabriel Borkman». Zwei Bände würden gerade reichen, um in einem Roman die Vorgeschichte zu erzählen. John Gabriel war ein Bankdirektor, der in phantastischem Glauben an seine Rothschild-Mission Depositen unterschlagen hat. Für dieses Verbrechen hat er fünf Jahre Zuchthaus bekommen. Das schwerere Verbrechen gegen ein ungeschriebenes Gesetz ist noch nicht gebüßt. Er hat einst zwischen zwei Frauen gestanden, zwischen Zwillingsschwestern. Ella, die er geliebt hat, so heiß wie John Gabriel lieben konnte, hat er um seiner Karriere willen preisgegeben. Die harte Gunhild hat er zur Frau genommen. Jetzt lebt er seit acht Jahren in einem anderen Gefängniß, in seinem zerrütteten Hause; der Lieblose hat keine Liebe gefunden. Da tritt Ella wieder in sein Leben, und ein kleines intimes Drama endet rasch mit John Gabriels Tode. Die Entscheidung liegt nicht bei ihm, sondern bei seinem Sohne Erhard, dem pietätlos vergnügten Studenten; Gunhild will den Sohn, der das gar nicht mag, zu einem irgendwie berühmten Manne erziehen, damit er die Schande der Familie wett mache; Ella will ihn, der ihr Pflegesohn ist, glücklich machen, wie sie sagt, d. h. sie will ihn als liebenden Sohn für sich gewinnen. Beide sind egoistisch; unendlich brutaler aber ist der jugendliche Egoismus Erhards, der auf die Schande des Vaters pfeift, ebenso auf die Verzweiflung der Mutter und auf die Herzensangst der Tante, und der mit einer verliebten Wittwe davonläuft. Es hängt mit dieser Haupthandlung nur lose zusammen, daß John Gabriel nun in der kalten Winternacht zum ersten Male sein freiwillig gewähltes Gefangenhaus verläßt, halb wahnsinnig in den Schnee hinausstürmt und daran stirbt.

Es ist nicht gut, daß man bei Ibsen so oft fragen muß, was er wolle. Auch die Größe von Goethes «Faust» wird klarer durch die Arbeit der Kommentatoren: was aber im «Faust» vor aller Erklärung auch für das schlichteste Gemüth auf der Oberfläche liegt, das ist gerade die herrlichste Poesie. So leicht zugänglich ist Ibsen nicht. Ich habe eben angedeutet, wo ich den Angelpunkt von «John Gabriel Borkman» erblicke. Es ist der Hohn über den menschlichen Egoismus, bald ein grimmiger, bald ein lachender Hohn. Wie dem jüngeren Ibsen die «Komödie der Liebe» aufging, ein unwirksames und unerreicht boshaftes Drama, so hat jetzt der alte Ibsen verallgemeinernd die Komödie alles menschlichen Gefühls geschrieben, die neue göttliche Komödie des Egoismus.

In einem meisterhaften Auftritt findet er das vernichtende Wort. Wie ein kranker Wolf geht John Gabriel über dem Zimmer seiner Frau hin und her, immer hin und her. Seit Jahren hat ihn da Niemand aufgesucht als ein armer Schreiber, der sich für einen Dichter hält; der hochmüthige Borkman läßt das gelten, so lange der Schreiber an seine Träume zu glauben vorgiebt: daß die Welt des Geldes eines Tages in sein Gefängniß kommen, daß man ihn wieder an die Spitze der Geschäfte stellen, und daß er alles Gold der Erde an sich reißen werde, zum Besten der Menschheit, wie Borkman sich selber vorflunkert. Da kommt es zwischen beiden Freunden zu einem Zank; sie gestehen, daß sie sich selbst und einander betrogen haben. «Ist aber das im Grunde genommen nicht Freundschaft?» fragt ganz harmlos der arme Teufel von Schreiber. Und der wilde Teufel Borkman antwortet: «Gewiß, betrügen das ist Freundschaft.»

Hier bleibt Ibsen stehen, darüber kann er nicht heraus. Wir alle sind betrogene Betrüger. Nicht ein versöhnender Abschluß ist es, sondern müde, sarkastische Gleichgiltigkeit, wenn die Schwestern sich über Borkmans Leiche die Hände reichen. Und blutigste Ironie ist die Stelle, die das Publikum gestern so peinlich berührte. Die lustige Wittwe, die mit Erhard durchbrennt, sagt zu seiner Mutter, sie nehme ein blutjunges Mädel mit, damit der arme junge Mensch später Jemand in Reserve habe. Das Publikum war entsetzt; einen unbekannten Autor hätte man dafür erbarmungslos ausgezischt. Nach Ibsens Vorschrift aber giebt die Wittwe auf ein böses Lächeln der Frau Gunhild diese Antwort «halb ironisch, halb ernsthaft.» Die halbe Ironie gilt dem Unverstand der Mutter, die das Liebesverlangen der jungen Leute nicht versteht; der halbe Ernst aber ist erst die eigentliche Ironie: Jawohl (meint der alte Ibsen), so abscheulich wird es kommen, und der einzige lichte Punkt in diesem Chaos von Egoismus, das Liebesglücksgefühl des Studenten, ist auch nur egoistische Illusion.

Es ist schon kein geringes Verdienst, ein solches Teufelswerk in menschlichen Gestalten auf die Bühne gebracht zu haben; das Deutsche Theater that dafür, was brave Schauspieler eben thun können, nicht mehr.

Herr Nissen spielte den Bankdirektor, vorzüglich in der Maske, tadellos in der Haltung des pathologischen verbrecherischen Komödianten, der sich mit seiner Lebenslüge von einer Weltmission aufrecht hält, und der mit dieser Lüge stirbt. Den Phantasten, der in der weiten Erde nur ein ungeheures Goldbergwerk erblickt, den ist Herr Nissen schuldig geblieben; doch ich fürchte, diese Phantasterei ist dem Dichter selbst nicht gelungen. In diesem äußersten Versuche, Naturalismus und Symbolismus in eins zu verschmelzen, ist Ibsen hinter Zola zurückgeblieben, der mit seiner elementaren Sprachgewalt uns öfter so berauscht hat, daß wir an die Phantastik seiner Kraftmenschen glauben konnten. An den Bergmannssohn in Borkman, der die Erzadern singen hört, kann ich nicht glauben. Ibsen ist mir lieb, die Wahrheit ist mir lieber.

Fräulein v. Poellnitz spielte die Gunhild, die an einer anderen Lebenslüge festhält, an der Mission ihres Sohnes. Die vorzügliche Schauspielerin gefielt gestern nicht, vielleicht weil sie den Fehler beging, den Herr Nissen zu sehr vermied. Er verrieth zu oft, daß er selbst nicht an sich glaube; sie verrieth es nie. Fräulein Else Lehmann als Ella hatte im ersten und zweiten Akte ergreifende Naturtöne; leider läßt Ibsen seine Ella über ihr zerstörtes Liebesleben zu klug schwätzen, und auch das stumme Spiel geht oft weiter, als diese Naturkünstlerin zu gehen vermag. Dennoch wurde ihre Ella die bedeutendste Bühnengestalt des Abends und wird uns lange im Gedächtniß bleiben. Fräulein Sandow (als Wittwe) und Herr Reinhardt (als Schreiber) waren gut. Herr Rittner spielte den Studenten mit seiner ganzen frischen Unbefangenheit; das Publikum fand den kecken Burschen sehr lustig, als ob es gemerkt hätte, daß der greise Ibsen selbst Erhards Jugendgefühl verspottet.
Fritz Mauthner.
Publisert 6. apr. 2018 09:59 - Sist endret 6. apr. 2018 09:59