Isidor Landau

Lille Eyolf ved Deutsches Theater i Berlin anmeldt av Isidor Landau i Berliner Börsen-Courier 13. januar 1895.

Vor den Coulissen.

Unter den lebhaftesten Beifallsäußerungen nimmt das Publikum des «Deutschen Theaters« soeben Abschied von «Klein Eyolf», dem neuen Schauspiel von Henrik Ibsen. Ein großer Erfolg also? O ja, ein mächtiger Erfolg des ersten Actes. Ein so starker, nachhaltiger Eindruck, daß er noch über den zweiten Act hinaus anhielt. Die wachsende Ungeduld zu überwinden, die sich während des letzten Aufzuges der Zuhörerschaft bemächtigte, war er freilich nicht mehr stark genug, aber dem Schlusse folgte wieder herzhafter Beifall, in dem sich nicht blos der Respect vor der ganzen dichterischen Persönlichkeit Ibsens, sondern auch die Anerkennung dessen ausdrückte, was an seinem neuen Werke packend ist oder anregend, was darin an Gemüth oder Verstand rührt.

Seit Wochen liegt das neue Stück von Ibsen vor, seit gestern Abend erst kennt man es. Wir haben uns mit der knappen Inhaltsangabe begnügt, die noch vor der Drucklegung des Stückes aus Kopenhagen kam. Der Versuchung, die Buchausgabe einer eingehenderen Besprechung zu unterziehen, haben wir widerstanden. Der gestrige Abend rechtfertigte unsere Zurückhaltung. Das echte Drama lebt nur in der Bühnenatmosphäre. Ein gedrucktes Stück unterscheidet sich von einem aufgeführten wie ein illustrirtes Lehrbuch der Botanik von einem in Blüthenpracht prangenden Garten. Kommt doch zur Wirkung eines Theaterstückes, wenn es aus dem Buchdasein ins Bühnenleben übersetzt wird, zunächst das Eine hinzu: die Seele des Darstellers, in ihrer Kraft die Fülle eines großen Empfindens zu offenbaren. Solch eine Offenbarung bot Frau Sorma gestern als Rita Allmers, und ihr zuerst gebühren die Ehren des Abends, wenn von der scenischen Verlebendigung des Stückes die Rede ist.

Bei dieser Verlebendigung sind zunächst die Spukgestalten dahingeschwunden. Zerflossen ist im hellen Rampenlichte das Symbolistische und Mystische zum großen Theil wenigstens. Was man an jedem norwegischen Dichter, an Ibsen zunächst absonderlich, schrullenhaft, deutsam, symbolistisch findet, zum großen Theil ist es in der Eigenart und Sprache seines Landes begründet. Man muß sie gesehen haben diese über endlos weite Strecken verstreuten Gehöfte, in denen die Menschen zur ewigen Einsamkeit, zum Erstarren oder zu inneren Kämpfen verurtheilt sind. Man muß sie kennen, diese glatten, tiefen Fjords, in deren schimmernder Fläche die weißhäuptigen Bergriesen sich spiegeln, um die abgehackten Reden, die stillen Grübeleien, die stotternden, stolpernden Gemüthsäußerungen in den nordischen Stücken zu begreifen. Es fragt sich, ob die Uebersetzung auch nur die Aufgabe hat, uns in einer Umdichtung statt des norwegischen ein deutsches Kunstwerk zu bieten. Wir müssen uns eben bewußt bleiben, daß wir bei der Aufführung eines solchen Stückes in fremdes geistiges Gebiet reisen, müssen die schnellfertige Kritik hinter die Beobachtung setzen.

Man liebt es freilich, Ibsen zum Mystiker und Symbolisten zu machen. Sieht doch dabei ein Prosit für die eigene Eitelkeit heraus. Wie erhaben kann man sich über alle die kleinen Geister fühlen, die das dramatisirte Räthsel in drei Bildern nicht gelöst haben! Ibsen kann seinem Publikum mit seinem besten Stück niemals so viel stillen Genuß verschaffen, wie die Beurtheiler seiner Stücke ihm bereiten, wenn er mit Behagen aus den Besprechungen erfährt, was er alles gemeint, was er alles ausgedrückt haben soll. Im Auslegen sind sie frisch und munter, legen sie nicht aus, so legen sie unter.

Von Grübelei und Tüftelei ist natürlich auch «Klein Eyolf» nicht frei, aber das ist nicht das geheimnißvolle Wesen, das ist einfach der arge Fehler des Stückes. Es setzt ein Körnchen Handlung in eine Ueberfülle von Reflexion und Selbstquälerei. Ein Kind ist sonst ein Band zwischen Eheleuten, bei den Allmers ist es anders. Hier ist Klein-Eyolf eine Scheidewand. Er steht zwischen den Gatten, Rita ist auf ihr eigenes Kind eifersüchtig, sie wünscht, es wäre nie geboren, damit Alfred ihr allein gehöre, sie wünscht es möchte da, noch eh sie den entsetzlichen Wunsch ausgedacht, ist er zu gräßlicher Erfüllung geworden. «Klein Eyolf», das arme, verkrüppelte, durch eine Schuld der Eltern verkrüppelte Kind, ist über die Landungsbrücke in den Fjord gefallen und ertrunken. Zum Entsetzen, das die Mutter über den Verlust befällt, gesellt sich wohl die marternde Selbstanklage aber vergebens der markerschütternde Schrei, klein Eyolf ist todt, der lockenden Rattenmamsell gefolgt in die kühle, ruhespendende Fluth, in der er still mit offenen Augen daliegt, bis eine Strömung ihn dem Meere zutreibt.

Zwei volle Acte, die nun folgen, gehören den Grübeleien über den Schmerz, über Gott, Jenseits, Zukunft, über Stimmungen und Möglichkeiten. Dazwischen spielt sich freilich, gleichsam zwischen den Zeilen, ein discretes Drama ab, ein Drama voller Liebe, Eifersucht, Entsagung und Ueberraschung. Allmers lebte vor seiner Ehe in trautester Gemeinschaft mit seiner Schwester Asta. Sie war sein Kamerad, sein Junge. Eyolf, «Klein Eyolf» hatte er sie genannt. Später stellte sich heraus, daß beide gar keine Geschwister sind. Ihre Liebe hatte also doch wohl einen anderen Charakter. Rita hatte es gefühlt mit dem Instinct der Eifersucht, Alfred wird es mit einigem Schreck gewahr, und Asta ist sich über diese Liebe klar, der sie entrinnt, indem sie die Bewerbung eines Wegebaumeisters annimmt.

Aber das alles ist wie mit einer Art Geheimschrift in das Schauspiel geschrieben, wie denn vieles der Theilnahme des Publikums sich entzieht, nicht weil es mystisch oder symbolistisch, nein, nur weil es in seiner stillen Grübelei, seiner brütenden Betrachtung nicht für die dramatische Behandlung paßt. Der Schluß, die Versöhnung der Gatten in dem Entschlusse, für die verwahrlosten Kleinen des Ortes zu sorgen, sich wiederzufinden in der Fürsorge für fremde Kinder, nachdem man sich durch das eigene entfremdet worden war, hat wieder eine gewisse dramatische Wirkung.

Das Leitmotiv des Stückes, die durchgehende, den Grundgedanken bezeichnende Redensart, sonst wars die «ideale Forderung», das Wunderbare rc., hier ists «das Gesetz der Umwandlung», durch das Allmers jede Aenderung in seinen Beziehungen insbesondere die in seiner Beziehung zu seiner Frau erklärt. Dieses Gesetz der Umwandlung von dem Parlament in Parket und Logen ist es gestern abgelehnt worden. Schon die langen Jeremiaden, Anklagen, Speculationen im zweiten Act ließen schließlich Unruhe und Ungeduld aufkommen, trotzdem das Mitleid stark erregt war. Der dritte Act mit seinen langen Zwiegesprächen steigerte das Husten, das nervöse Scharren, Rücken, Räuspern noch mehr, und als der Wegebaumeister nun das Gesetz der Umwandlung ein «dummes Gesetz» nannte, stimmte das Publikum ironisch heiter ein. Mehr als einmal fand es sich indeß wieder angeregt und angezogen, insbesondere auch durch literarische Parallelen. Da begegnet man mit Interesse dem Francillon-Motiv in derb-nordischer Behandlung, dann wieder Goethes Geschwistern, einmal dem Faust nach der Rückkehr aus der Bergeinsamkeit, dann dem des Katechismusgesprächs mit Gretchen.

Die Aufführung kämpfte mit Heroismus für das Werk. Frau Sorma erfüllte ihre Rita mit Leben, Seele, Empfindung. Dieses im Erdendasein wurzelnde, liebeheischende, leidenschaftliche Weib war eine echte, warmblütige Menschengestalt, glaubhaft im rücksichtslosen Liebesverlangen, hinreißend in der elementaren Aeußerung des Entsetzens bei der Kunde von Eyolfs Tode. Es giebt also noch Schauspielerinnen, die es bewirken können, daß es uns eiskalt überläuft, daß wir in Schrecken gebannt dasitzen, ganz Gefangene der poetischen Illusion. Die Asta, das still und hingebend liebende Mädchen, deren Beruf und Lebenselement es ist, sich zu opfern, fand in Frau Hachmann-Zipser die geeignetste Darstellerin. Die verhaltene Empfindung, der innere Kampf, der Sieg des Opfermuths kam trefflich zur Geltung. Die Frauen sind bei Ibsen nun einmal das stärkere Geschlecht. Der Mann, Alfred Allmers, gehört zu den Solneß, Ekdals, Rosmers, zu dem Geschlecht des Fachmenschen in Hedda Gabler, des Ehemannes in der Frau vom Meere, zu den schwachen, unsicheren, sich selbst kaum vertrauenden Schattennaturen. Herr Reicher bot alle Kraft auf, um ihm Leben einzuathmen wie Herr Rittner ganz für den Baumeister eintrat. In der Episode der Rattenmamsell führte Frau Wilbrandt-Baudius. Die treffliche und geistvolle Darstellerin, die wir an der neuen Wirkungsstätte willkommen heißen, hatte die Rattenmamsell als eine Art Märchenhexe aufgefaßt und in diesem Stile überaus charakteristisch in Ton und Haltung durchgeführt. An Wirkung fehlt es nicht. Wir möchten in der Rattenmamsell freilich eine realistischere Gestalt, eine bizarre Dorfhexe, eine Art Mutter Fadet sehen, die, kraftvoll menschlich gespielt, verständlicher, natürlicher erscheinen könnte. Der kleine Eyolf fand einen sehr geeigneten Vertreter, und die Regie hatte für die rechte Stimmung gesorgt.

Nach dem ersten Act, an dessen Schlusse Frau Sorma ihre stärkste schauspielerische Wirkung erreichte, durchraste ein Sturm des Beifalls das Haus. Director Dr. Brahm erschien vor dem Vorhang, um mitzutheilen, Ibsen, durch die Vorbereitung seines Stückes in Christiania festgehalten, habe nicht nach Berlin kommen können. «Im Geiste weilt er bei uns, und seines Geistes haben Sie ja einen Hauch verspürt». In seiner Rede ertappte sich Herr Dr. Brahm plötzlich bei dem Auftrage Ibsens, für den Beifall zu danken, von dem Ibsen doch nichts wissen, auf den er gar so bestimmt nicht rechnen konnte, ein rettender Conjunctiv befreite ihn glücklich aus der Verlegenheit. Auch den durch Unruhe arg gestörten letzten Acten folgte, wie gesagt, lebhafter Beifall. Ibsen steht hier eben fest in der Gunst der Premièrengäste, nun mag er nur zusehen, daß er die der Wiederholungen gewinnt.

I. L.
Publisert 9. apr. 2018 13:28 - Sist endret 9. apr. 2018 13:29