Eugen Zabel

Vildanden på Residenz-Theater anmeldt av Eugen Zabel i National-Zeitung, Berlin, 6. mars 1888 (Nr. 151. 41. Jg.).

Residenztheater.

Die «Wildente« schließt sich in der künstlerischen Anlage und Absicht ganz den Familiendramen an, die Ibsen innerhalb des letzten Jahrzehnts ausschließlich geschrieben hat und unter denen uns die «Stützen der Gesellschaft» immer als das verständlichste, «Nora» als das im rein menschlichen Sinne interessanteste Stück erschienen ist. Alle späteren Arbeiten wie «Gespenster», «Volksfeind», «Rosmersholm» mußten demselben Publikum, das die Schöpfungen des Norwegers so lange unbefangen und dankbar entgegengenommen hatte, erst auf künstliche Weise, wie durch den Reiz des Verbotenen und die Bemühungen der «Ibsengemeinde» schmackhaft gemacht werden. Ueberblickt man diese Reihe von Dramen bis zur «Wildente» , die am Sonntag, den 4. März, Vormittag zum Besten des Vereins «Berliner Presse» im Residenztheater in Scene ging, so fällt bei ihnen ein gemeinsamer Grundzug unmittelbar auf. Sie alle sind Schmerzenskinder eines Mannes, der seiner Heimath geistig längst entwachsen ist und doch mit seinem Seelenleben unauflöslich dort wurzelt, der das Vaterland mit der Phantasie beständig sucht, während er ihm als Bürger nicht mehr angehören kann. Als Dichter erfüllt ihn der kleinstädtische Jammer, den er während seiner ganzen Jugendzeit durchkostet hat, noch immer. Er schmeckt selbst in Rom die Wald- und Seeluft Norwegens mit dem Fischgeruch, der sie durchzieht, er grübelt, den Blick nach Norden gerichtet, über den Unterschied zwischen dem Hochmuth der Reichen und dem Elend der Armen, über das ganze System von Verleumdung und Heuchelei, dem er glücklich entgangen ist. Diese kleine und erbärmliche Welt bringt er nun mit dem Ideal zusammen, das ihm in der Einsamkeit seines Denkens und Dichtens gereift ist, er will sie mit seinen Gedanken befruchten, sieht aber bald das Unmögliche dieses Versuches ein und stößt sie endlich verächtlich von sich. Nicht im tragischen Anprall gleichberechtigter Leidenschaften verzehrt sich die dramatische Gluth, die er schürt, sondern in der Wucht einer Idee, die mit der Schwere des Dampfhammers auf Menschen und Dinge herabfällt.

Ibsens sittlicher Idealismus steckt, was die «Wildente» betrifft, in der Figur des jungen Werle, der lange Jahre den väterlichen Herd gemieden, sich in den entlegenen Eisenwerken aufgehalten hat und nun in die Stadt zu seinem Vater, dem Großhändler zurückkehrte. Der Charakter dieses jungen Mannes wird uns nicht erklärt, wir müssen ihn als vorhanden und unabänderlich hinnehmen. Gregers Werle tritt vor uns hin nicht als ein Wesen mit Blut und Sinnen, sondern als die Verkörperung eines moralischen Begriffs, dem sich seine Umgebung bedingungslos unterwerfen soll. Er will die Lüge, wo er sie findet, aufdecken und durch die Wahrheit, zu deren Anwalt er sich macht, eine sittliche Wiedergeburt der Menschen bewirken. Von der Nützlichkeit und Nothwendigkeit seines Thuns ist er so überzeugt, daß ihn keine Regung kindlicher Liebe auch nur einen Augenblick zurückhalten kann, sich von seinem Vater loszusagen, weil dieser vor einer langen Reihe von Jahren sein Gewissen schwer belastet hat. Der Großhändler hatte damals mit dem Lieutenant Ekdal zusammen ein großes Waldgebiet gekauft. Bei dem Schlagen des Holzes wurde der Fiskus betrogen, beide Männer wanderten auf die Anklagebank, aber nur Ekdal wurde schuldig befunden und kam ins Zuchthaus, während Werle wegen fehlender Beweise frei ausging. Nachdem der Unglückliche seine Strafe abgebüßt hat, ist er ein gebrochener, halb kindischer Mann, der in seiner Dachstube für seinen ehemaligen Genossen Abschriften besorgt und sich auf dem Bodenraum ein lächerliches Jagdrevier unter Hühnern und Kaninchen geschaffen hat, während er früher selbst den Bären nachstellte. Der alte Mann lebt mit seinem Sohne, dessen Frau und Töchterchen zusammen und hier stoßen wir auf eine zweite unheilvolle Beziehung zwischen dieser Armuth in der Dachkammer und dem Glanz im Hause des Großhändlers. Vor fünfzehn Jahren hat Werle seine Wirthschafterin Gina Hansen verführt und dann deren Verheirathung mit dem Sohne Ekdals, einem verträumten, unthätigen Menschen, dadurch ermöglicht, daß er diesem das Geld zur Einrichtung eines photographischen Ateliers gab. Hjalmar Ekdal weiß nicht, daß er eine Gefallene zu seiner Frau gemacht hat, er lebt mit ihr wie mit seinem bemitleidenswerthen Vater und seiner zur Jungfrau heranblühenden Tochter nicht schlechter, als Tausende armer Leute, bei denen die Sorge und Arbeit das Grübeln über längst Vergangenes schon von selbst verbieten. Wer gesündigt hat, trägt die Verantwortung dafür im eigenen Gewissen und mag zusehen, wie er es zum Schweigen bringen kann. Der Großhändler ist ein freudloser, einsamer Mann, der nach dem Tode seiner Frau es erleben muß, daß ihn auch sein Sohn verläßt, Gina aber, die für drei Generationen in Mühe und Arbeit aufgeht, hat keine Neigung und Zeit sich überflüssige Gedanken zu machen. Die Dinge könnten ihren ruhigen, alltäglichen Verlauf nehmen.

Das ist aber nicht des Dichters Meinung. Er zwingt uns, die Situation nicht so, wie sie in Wahrheit liegt, sondern mit den Augen jener abstrakten Sittlichkeit anzusehen, die Gregers Werle vertritt, obwohl wir uns beim besten Willen nicht klarmachen können, aus welchen Quellen dieses Feingefühl herzuleiten wäre. Es ist keine Ueberzeugung, die uns tiefer rühren kann, sondern eine bloße Schrulle, wenn der junge Werle das Glück der Familie Ekdal ebenso verwundet und flügellahm findet, wie die Wildente, die auf dem Dachboden inmitten der Hühner in einer Holzkiste kauert und als besonderer Liebling von Ekdals Tochter, Hedwig, ängstlich und liebevoll gehütet wird. Diese Symbolik zieht sich durch das ganze Stück, sie wirkt wie eine diskrete, geistreich angeschlagene Begleitung, während die eigentliche Melodie in der Wendung liegt, welche die Dinge in Folge des hitzköpfigen und unüberlegten Eingreifens von Gregers Werle nehmen. Ein echt Ibsenscher Charakter, ruht er nicht eher, als bis er das, was er als Wahrheit erkannt hat, an den Mann bringt, ohne sich im Geringsten Rechenschaft über die Folgen seines Thuns zu geben. Für ihn ruht das Familienglück Ekdals auf einer ungeheuren Lüge, wenn dieser sie erkannt haben wird, muß ein Geist von Erleuchtung, Freiheit und Thatkraft über ihn kommen, der alle großen, in ihm schlummernden Keime erweckt. Aber Ekdal ist nichts weniger als ein zum Bedeutenden berufener Mensch, dem das Ertragen von Unglück neue Spannkraft verleiht. In bloßer Selbstgefälligkeit täuscht er sich mit falschen Hoffnungen und während er, durch die Eröffnungen seines Freundes im Innersten verwundet, Weib und Kind von sich stoßen will, trifft ihn von einer ganz unerwarteten Seite ein noch furchtbarerer Schlag. Sein Töchterchen Hedwig, an dessen Liebe er zu zweifeln anfing und die ihm, um das Gegentheil zu beweisen, ihr Liebstes, die Wildente, opfern wollte, giebt sich selbst den Tod. Ein blühendes Menschenleben wird vernichtet, eine Familie in ihren Grundvesten erschüttert und das Alles, weil ein Querkopf, den man vernünftigerweise überall bitten sollte, die Thür von draußen zuzumachen, im Namen der Wahrheit sich dümmer benimmt, als es der unerfahrenste Schulknabe thun könnte.

Mit Geist und Phantasie, wie sie dem Dichter der «Wildente» die Feder geführt haben, kann man den gesunden Menschenverstand wohl für einige Augenblicke auf den Kopf stellen, aber nicht hindern, daß er sich wieder emporrichtet und seine Verächter auslacht. Ibsen hat dafür in seinem Stücke schon selbst gesorgt, indem er dem närrischen Wahrheitsapostel Gregers Werle den Doktor Relling gegenüberstellt und ihm die These in den Mund legt, daß die Ideale und Illusionen dem Menschen zu seinem Dasein nothwendig sind und daß, wer ihm diese raubt, zugleich sein Glück zerstört. Das ist eine höchst einleuchtende Wahrheit und von unendlich größerer Tragweite, als Alles, was Gregers Werle in den fünf Akten des Ibsenschen Schauspiels unter diesem Namen zum Besten giebt. Es besteht keine Freundschaft und keine Liebe, keine Familie und kein Staat, wenn wir aufhören, uns gewisse Vorstellungen ins Ideale zu vervollkommnen. Hat Ibsen nun, indem er sein Thema schließlich doch von zwei Seiten beleuchtet und die Natürlichkeit zu Worte kommen läßt, die Grundlage seines Dramas wieder fallen lassen? Keineswegs, denn Relling wird als ein gewöhnlich denkender, ausschweifender Mensch hingestellt, während Gregers Werle im reinen Aether seines Wahrheitseifers ruhig weitersegelt und sich höchstens gestehen muß, am Tische regelmäßig der Dreizehnte zu sein. Aber hinter ihm steht schützend der Dichter selbst, um Alles, was Jener sagt, persönlich zu vertreten. Nicht der sittliche Idealismus der Figur, von welcher der einzige Anstoß zu einer Art Handlung in der «Wildente» ausgeht, sondern die beschränkte Welt, die einer solchen Anschauung noch nicht gewachsen ist, wird für den Dichter ad absurdum geführt. Es ist, als ob er uns zurufen wollte: Bessert Euch, werdet Charaktere, die ihren Ueberzeugungen folgen und die Wahrheit muß Euch stets zum Heile ausschlagen.

Vor der Hand möchten wir uns aber erlauben, an der Brauchbarkeit solcher Charaktere für das Drama zu zweifeln, so lange man sich nicht entschließt, ihnen eine ausgesprochene tragische oder humoristische Farbe zu geben. Gregers Werle soll für uns ein ernst zu nehmender Charakter sein, aber was er thut, schwankt in seinen Folgen zwischen dem Komischen und dem Traurigen unbestimmt hin und her. Bei der Aufführung der «Wildente» rücken die Scenen, in denen Hjalmar Ekdal nach der Erkenntniß seiner Lage sich zum Heroischen aufraffen will und immer wieder in das Triviale herniedersinkt, dem Lustspiel ganz nahe, während der Selbstmord Hedwigs wieder ein tragischer Moment ist, der bei all seiner tiefen Wirkung von dem Mittelpunkt der Fabel doch willkürlich abspringt. Zieht man das Stück als Ganzes in Betracht, so wird man es ein psychologisches Experiment nennen müssen, in dem das Mischungsverhältniß ein erstaunlich feines ist, das aber doch schließlich zu keinem Resultate führt, denn die Weltanschauung, die der Dichter vertritt, kommt für den Zuschauer zu Fall und woran sich dieser als Versöhnung allenfalls anklammern könnte, wird ihm von dem Autor unter den Füßen weggezogen.

Will man Ibsen bewundern, so darf man nicht den geschraubten Folgerungen seiner Handlung nachgehen, sondern muß bei der Ausmalung seiner Charaktere und dem Stimmungszauber seiner Situation verweilen. Die norwegische Kleinstadt lag bei der Aufführung vor uns ausgebreitet und wir glaubten diese Dinge und Menschen mit Händen greifen zu können. Niemand hat den zweiten in Ekdals Atelier spielenden Akt sehen können, ohne die Wucht eines tragischen Geschicks bis in das innerste Mark zu empfinden. Hier arbeiteten sich die Regie und die Schauspieler zur erfreulichsten Gesammtwirkung in die Hände. Herr Direktor Lautenburg hatte die scenische Einrichtung mit feinem Geschmack besorgt und sich zugleich in das Seelenleben Hjalmar Ekdals, den er spielte, mit geschmeidiger Phantasie versetzt, er gab den Ueberspanntheiten dieses Charakters die volle Wahrheit und Glaubwürdigkeit. Ihm stand Fräulein Kronau als Gina mit der unverdrossenen schlichten Arbeitsamkeit der Frau aus dem Volk, frei von jedem falschen Pathos, bestens zur Seite. Ein Paar Prachtleistungen waren der alte Ekdal des Herrn Pagay und die kleine Hedwig des Fräulein Zipfer. Dort das verkümmerte, schlurfende, kindisch gewordene Greisenalter in musterhafter Detailmalerei, hier das Kind, das zur Jungfrau erblüht und aus der Ahnungslosigkeit ihres Denkens mit einem gewaltsamen Ruck herausgerissen wird. Der kindlich rührende Ton, die zarte Erscheinung in dem kurzen Röckchen, die unschuldigen in Freude und Schmerz leuchtenden Augen wirkten wie die lieblichste Natur. Herr Brandt als Gregers Werle und Herr Tewele als Doktor Relling entwickelten eine eindringliche Kraft der Beredtsamkeit, welche die Sympathien des Publikums bald nach der einen und bald nach der andern Seite hinüberzuziehen versuchte.
E. Z.
Publisert 20. mars 2018 13:21 - Sist endret 20. mars 2018 13:21